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Kirche in WDR 3 | 08.07.2019 | 07:50 Uhr
Eine Frage der Wahrnehmung
Guten Morgen!
Ich hoffe nicht, dass Sie in
diese neue Woche stolpern. Aber ich möchte Ihnen bis Samstag ein paar
Geschichten vorstellen, die ich gerne „Stolpergeschichten“ nenne. Nicht weil
sie einen zu Fall bringen, wohl aber, weil sie auf die eine oder andere Art
anecken. Ich bin an ihnen hängen geblieben und habe darin etwas je Neues
ent-deckt. Eine dieser Stolpergeschichten ist Bertold Brechts Erzählung „Das
Paket des lieben Gottes“.
Worum geht
es?
Die Geschichte spielt im sozialen
Elend von Menschen eines Schlachthofviertels von Chicago in den 1920er Jahren.
Es ist Heiliger Abend. Brecht versammelt eine Gruppe von Arbeitslosen, die
irgendwie versuchen, durch die Nacht zu kommen. Kälte und Sinnlosigkeit des
Daseins sind nur noch mit viel Whisky und
Ironie zu ertragen. Entsprechend derb sind die Weihnachtsgeschenke, die
sich die angeheiterten Grüppchen gegenseitig schenken. Zumindest das Lachen
wollen sie in dieser bitte-ren Zeit nicht verlernen. Einem, der den Eindruck
erweckte, die Polizei sei hinter ihm her, schenkten sie ein paar Seiten aus dem
Adressbuch mit lauter Polizeistationen. Und damit es halbwegs weihnachtlich
rüber kommt, wickeln sie die Adressbuchseiten in irgendein Zeitungspapier.
Als der arme Kerl das Bündel
auspackt, werden seine Augen immer größer. Aber nicht wegen der Polizeiadressen,
sondern wegen der Verpackung, dem ollen Zeitungsblatt. Da las er die Nachricht
schwarz auf weiß, dass er zu Unrecht eines Verbrechens bezichtigt worden ist.
Sozusagen ein Freispruch.
Die anderen begreifen sofort, welche erlösende Wirkung diese Zeitungsnachricht für ihn haben muss und lachen plötzlich aus vollem Halse und aus ganzem Herzen. Die Bitterkeit war vergessen und der Abend, dieser Heilige Abend im ärmlichen Schlacht-hofviertel in Chicago wird doch noch ein fröhliches Fest. „Es spielte gar keine Rolle“, so lässt Brecht die Geschichte ausklingen, „dass dieses Zeitungsblatt nicht wir ausgesucht hatten, sondern Gott“.
Dieser letzte Satz hat mich
ins Stolpern gebracht. Wenn man weiß, dass Brecht alles andere war als ein
Kirchenmensch und dass er jeder Religion skeptisch gegenüber-stand, dann muss
man sich doch fragen, was er da mit dem lieben Gott im Sinn hatte. Wäre es
nicht passender gewesen, die erlösende Botschaft auf recyceltem Zeitungspapier
als glücklichen Zufall zu deuten?
Oder
vage: dass es keine Zufälle gibt?
Nein,
er spricht ganz unverblümt von Gott. Was bewegt ihn dazu?
Vielleicht das: Als Brecht
einmal gefragt wurde, ob er ein Lieblingsbuch habe, da gab er zur Antwort: „Sie
werden lachen – die Bibel“. Für mich wird
diese Mitteilung Brechts verständlich durch eines seiner Liebesgedichte. Da zeigt uns der Dichter, welche Bedeutung für ihn das Erstaunen hat. Das
Erstaunen darüber, wie in der Liebe Unglaubliches wahr wird und Unverhofftes
sich als Erfüllung seiner Sehnsucht erweist. Ein ähnliches Erstaunen ist auch
hier in Brechts Erzählung der Wendepunkt von der Bitterkeit zu einem fröhlichen
Miteinander im Elend der Schlachthöfe. Und die Bibel, das Lieblingsbuch
Brechts würde es wohl auch nicht geben ohne das endlose Erstaunen darin.
Es grüßt Sie Pfarrer
Friedhelm Mensebach aus Köln