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Kirche in WDR 3 | 23.08.2019 | 07:50 Uhr
Vorsicht an der Bahnsteigkante ...
Guten Morgen. Ich gebe ja zu: Nach den
schlimmen Ereignissen in Voerde und Frankfurt schaue ich mich auf dem Bahnsteig
etwas genauer um, wenn ich eine Zugreise antrete.
Gerade eben auf dem Weg in das Funkhaus zur
Aufnahme der Morgenandachten dieser Woche war das auch wieder der Fall. In
einem beiläufigen Gespräch neulich auf einem Bahnsteig verstieg sich sogar
einer ganz offen zu der These: „Ja – so sieht wohl Terror aus…“ Dieser kurze
Satz hat mich dann doch sehr erschrocken. Ja, dass Terror nicht unbedingt mit
riesigen Opferzahlen und komplexen Abläufen einhergehen muss – das war mir
schon länger klar.
Hauptsache Angst und
Schrecken verbreiten. Das geht auch mit ganz einfach Mitteln. Aber die Taten
einzelner, offensichtlich psychisch labiler Menschen mit Terror in Verbindung
zu bringen – das geht mir dann doch zu weit. Dennoch: Der Blick in die
Statistik verheißt nichts Gutes. Seit Jahren steigt die Zahl der Menschen, die
sich in ständiger, psychiatrischer Behandlung befinden, weil sie dem Druck der
Gesellschaft nicht mehr standhalten. Immer mehr Menschen brechen unter der Last
des Alltags zusammen. Nicht mitgerechnet all‘ die, die ihre Probleme gerade allein
mit sich selbst ausmachen, die sich noch nicht einem Freund, einer Seelsorgerin
oder einem Psychiater anvertraut haben. Manche von denen werden irgendwann ausbrechen
aus ihrer Notlage. Wie eine tickende Zeitbombe. Und das ganz unabhängig von
Alter, Herkunft, Hautfarbe, Religion oder sozialer Stellung. Das macht mir
mittlerweile Angst – und lässt in mir die Frage hochkommen: Gibt’s denn so gar
nichts, was wir dagegen tun könnten? Und damit ziele ich gerade nicht auf
schnelle Lösungen, die unter der Überschrift: Mehr Sicherheit durch mehr
Polizei, Umbaumaßnahmen auf Bahnhöfen und überhaupt… zusammengefasst werden
können. Ich meine, das müsste ganz anders ansetzen. Etwa mit einem Grundsatz,
der heute in den katholischen Gottesdiensten wieder vorgelesen wird. Er stammt
von Jesus: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. So einfach – so
gut. Und doch so schwierig. Ja – ich höre sie schon wieder, die Kritiker: So
ein frommes Gewäsch – das hat doch mit der Wirklichkeit da draußen nichts mehr
zu tun. Bleib doch mit diesen Sprüchen in deiner Kirche und fall uns nicht
damit lästig.
Trotzdem: Wenn wir diesen Satz wirklich ernst nähmen – den Nächsten wie uns selbst zu lieben – dann müsste sich doch einiges ändern. Es wäre nämlich vorbei mit der Gleichgültigkeit anderen gegenüber. Mit ein wenig mehr Achtsamkeit auf einander wäre schon einiges gewonnen. Aber auch Achtsamkeit auf sich selbst: Wenn mir mein Leben vollkommen schnuppe ist und ich es einfach an mir vorüberlaufen lasse – warum sollte ich das Leben eines / einer anderen ernstnehmen und wertschätzen? Ja – ich habe sie wieder in den Ohren, die Ansage, die es früher auf jedem Bahnhof gab: Bitte Vorsicht an der Bahnsteigkante! Ich glaube wirklich, dass wir, gesellschaftlich gesehen, an der Bahnsteigkante stehen. Oder an der Kante vor dem Abgrund. Der Satz Jesu, den die Katholiken sich heute aus der Bibel vorlesen, kann das Schlimmste verhindern: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Achte auf dich und die anderen. Passt gemeinsam an der Bahnsteigkante auf. Haltet euch – dann hält euch Gott. Für mich eine beruhigende Zusage – wenn wir sie denn wieder ernster nähmen. Vielleicht gelingt es uns ja angesichts der schrecklichen Taten von Voerde und Frankfurt.
Passen sie gut auf sich und die anderen auf! Ihr Pfarrer Ulrich Clancett aus Jüchen.