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Kirche in WDR 3 | 16.12.2019 | 07:50 Uhr
Kein Auslaufmodell
Guten Morgen.
„Wenn es kein Update für Menschen gibt, sind sie dann Auslaufmodelle?“ (1)
Im Vorbeigehen sehe ich an der Eingangstür eines Seniorenzentrums diese Frage
auf einem Plakat.
Update-Auslaufmodell, diese Begriffe sind technischer Natur. Und eigentlich auf Menschen nicht anzuwenden. Was aber ist mit Menschen, die nicht selbstständig leben wollen oder können? Die immer schlechter sehen und hören, die langsamer denken, mehr Schlaf brauchen, aber schlechter schlafen, die nicht online sind und keine digitalen Botschaften senden?
Werden sie nicht doch
angesehen wie Auslaufmodelle, weil die gängigen Updates - Internet, Computer,
Smartphone - bei ihnen nicht angekommen und sie nicht mehr up-to-date sind?
Ich hoffe, dass ich, wenn ich alt bin, auf Menschen wie Susanne treffe. Von ihr
erzählt mein Adventskalender „Der andere Advent“ heute. (2) Sie sitzt im
Empfangsbereich eines Seniorenzentrums. Hinter ihrem Schreibtischstuhl ist das
Regal mit den Postfächern.
Jeden Morgen kommt ein Mann
zu Susanne. Direkt nach dem Aufstehen. Seine Haare sind noch ungekämmt. Er hat
es eilig, runter zu kommen zu Susanne an die Rezeption. Susanne hört seinen
schleppenden Schritt, erkennt den Klang der Hausschuhe auf dem Boden. Wenn er
vor ihr steht, sieht sie das leichte Zittern seiner Lippen. „Post für mich?“
fragt er leise und angespannt. Susanne schaut ihn an und sagt: “Warten Sie,
Herr Ullrich, ich schau gleich nach!“ Sie steht vom Stuhl auf, dreht sich um
und geht zu den Postfächern, streift mit den Fingern an den einzelnen vorbei
und landet bei U wie Ullrich. Sie dreht sich um, nimmt wieder Platz, blickt
Herrn Ullrich in die Augen und sagt: „Heute nicht.“ Es klingt, als bekäme er
jeden Tag Post und als sei nur der heutige Tag eine Ausnahme.
Herr Ullrich wohnt seit 14 Jahren im Haus und hat noch nie Post bekommen. Doch
trotzdem geht er jeden Tag an die Rezeption und fragt nach. Vielleicht nur,
weil Susanne zu ihm sagt: „Heute nicht, Herr Ullrich.“ Wenn sie „heute“ sagt,
geht ihm das Herz auf. Dieses Wort tut ihm gut und signalisiert ihm: Susanne
fühlt mit ihm, sie weiß, dass er Kontakt sucht, dass er auf Lebenszeichen von
Menschen hofft, denen er etwas bedeutet. Er wartet sehnsüchtig auf so etwas
Altmodisches wie einen Brief. Doch sein Postfach ist leer. Vielleicht weil seine
Kinder nur noch E-Mails schreiben, die Enkel nur noch digitale Botschaften
verschicken, vielleicht weil niemand mehr lebt, den er gernhatte.
Für Susanne ist Herr Ullrich kein Auslaufmodell, sondern ein alter Mann mit
Sehnsüchten, die jeder Mensch hat. Ihr „Heute nicht“ ist sein tägliches Update.
So viel steckt in diesen Worten: Heute lebe ich an deiner Seite. Ich ahne, was du
brauchst. Ich sehe dich an.
Wenn Herr Ullrich sich umdreht und zurückgeht in sein Zimmer, hält er seinen Rücken ein wenig aufgerichteter, sein Schritt ist ein wenig fester und seinen Kopf hält er etwas höher. Sein Geist freut sich, denn Susanne hat ihn gesehen. Blicke können Menschen aufheben aus ihrem Elend, Worte richten sie auf und ein freundliches Lächeln verleiht ihnen Ansehen.
Ich bin gewiss, auch Sie können heute ein solches Update bekommen oder anderen
eins geben.
Ich bin Pfarrerin Kathrin Koppe-Bäumer aus Meschede.
( 1 ) Plakat aus der Kampagne
der Caritas sozialbrauchtdigital.de
( 2 ) Der andere Advent,
2019, 16.12.2019, Post für Herrn Ullrich von Doris Bewernitz.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze