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Kirche in WDR 3 | 22.06.2021 | 07:50 Uhr
Projekt Ehrlichkeit
Das war mitten in der Pandemie. Da sprang mich ein Gedanke an, der mir sehr bekannt vorkam. Irgendwo hast du das schon einmal gelesen... So ging es mir – ich habe mich in meinem Bücherregal auf Spurensuche gegeben. Und ich bin fündig geworden. In einem Buch, das wir in der Oberstufe des Gymnasiums zur Lektüre hatten.
Dieser Gedanke ist einfach – genial einfach und hilft mir immer mehr, etwas von dem, was gerade in dieser Welt vorgeht, besser zu verstehen, ja bisweilen zu durchschauen. Albert Camus, der französische Philosoph und Schriftsteller, hat ihn in seinem Buch „Die Pest“ von 1947 festgehalten. Er lässt den Arzt Dr. Rieux sagen: „Die einzige Art, die Pest zu bekämpfen, ist die Ehrlichkeit.“ Rumms. Das sitzt. Damit ist eigentlich alles gesagt. Da brauchst du keine Experten und keine Talk-Shows mehr, keine Prognosen und keine
Ministerpräsidenten-Konferenzen, keine Virologen, kein Gesundheits- und kein Ordnungs-amt, keine Politiker… Dieser Satz beschäftigt mich seit seiner Wiederentdeckung immer wieder und immer mehr. Natürlich weiß ich noch aus dem Deutsch-Unterricht von damals, dass das Buch eine Parabel auf die Herrschaft des gerade untergegangenen Dritten Reiches ist. Aber dennoch: Ich habe den Satz einfach einmal auf unsere aktuelle Situation hin angepasst: „Die einzige Art, die Pandemie zu bekämpfen, ist die Ehrlichkeit.“ Und ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass das quälend lange dieser Pandemie-Zeit zu einem guten Stück mit diesem einfachen Satz zu erklären ist. An allen Ecken und Enden fällt mir seit Beginn der Pandemie auf, dass es genau diese Ehrlichkeit ist, an der es in dieser Zeit immer wieder mangelt.
Ich brauche Ihnen jetzt keine Liste
der ganzen Unehrlichkeiten in der Pandemie aufzumachen – da fallen Ihnen sicher
selbst viel zu viele ein. Aber ich bin mir sicher, die Pandemie wird uns noch
etwas länger in den Klamotten stecken – auch wenn jetzt die Aussichten sonniger
sind als noch vor einem viertel Jahr. Und dem Gesundheitsminister könnte ich
jetzt genug ankreiden. Aber ich bin ihm dankbar für einen Satz, den er
vor etwas über einem Jahr geprägt hat. Jens Spahn
sagte damals bei einer Regierungsbefragung im Bundestag: „Wir werden in ein
paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“
Dieser für ein Regierungsmitglied doch sehr ungewöhnliche wie bemerkenswerte Satz tat gut – und tut gut. Weil er ehrlich ist. Weil er den Blick nicht nur auf „die Anderen“ richtet, die alles verbockt haben – sondern auch auf jede und jeden einzelnen selbst. Das ist, neben fortschreitenden Impfungen, sinkenden Inzidenzen und vielen Lockerungen eine unglaublich befreiende Botschaft an alle, unterschiedslos alle Menschen. Es ist auch, davon bin ich als Christ überzeugt, die befreiende Lebens-Botschaft Gottes an uns: Mach dich ehrlich – verzeihe anderen und auch dir selbst – und starte neu. Egal, was vorher war – du hast die Chance zu einem Neubeginn.
Und was soll ich Ihnen sagen: Da entdecke ich in meinem direkten Umfeld sehr viel: Menschen, die sich mir anvertrauen. Die schlussmachen wollen mit den vielen kleinen Lebenslügen, von denen sie mir erzählen. Die ehrlich auf andere Menschen zugehen, wenn es ihnen schlecht geht. Die verzeihen, wo Gräben unüberwindbar schienen.
Diese Erfahrungen in der Schlussphase der Pandemie machen mir wieder Mut, an das Gute zu glauben, machen mir Hoffnung, dass es noch nicht ganz vorbei sein kann mit der Ehrlichkeit. Und sie machen mir Hoffnung, dass es genau diese winzig kleinen Ehrlich-keiten sind, die uns letztlich auch im Kampf gegen Viren und Pandemien siegen lassen können.
Ich wünsche ihnen für heute hier und da solche ehrlichen Momente und vielleicht sogar einen total befreienden Neu-Anfang,
Ihr Ulrich Clancett aus Jüchen.