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Kirche in WDR 3 | 12.11.2022 | 07:50 Uhr
Den Mantel hinhalten
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
als der
auferstandene Jesus nach seinem Tod denen begegnete, die ihn hängen ließen,
hätte er wohl allen Grund gehabt, ihnen heftige Vorwürfe zu machen! Doch was
tut er? Sein erstes Wort an die verwirrten und verängstigten Jünger ist:
„Friede sei mit euch!“ Und dann zeigt er ihnen seine Wunden.
Jesus überspielt
seine Wunden nicht. Er tut nicht so, als sei alles in Ordnung. Doch bevor er
ihnen seine Wunden zeigt, sagt er: „Friede!“ Vielleicht sagt er dieses weitende
Wort „Friede“ zugleich sich selbst und den anderen. Er öffnet sich, er zeigt
sich. So haben auch die anderen die Chance, sich zu öffnen, genauer hinzusehen,
sich der Realität ihrer eigenen Wunden und ihres eigenen Anteils an der
gemeinsamen Geschichte zu stellen.
Den Weg zum anderen finde ich nur durch die enge Tür meines eigenen Lebens. Nur wenn ich mich selbst gut wahrnehme, kann ich auch andere gut wahrnehmen. In dem Maße wie ich mich selbst verstehe, lerne ich zugleich, andere zu verstehen.
Dank der ruhigen Begegnung mit den Wunden Jesu und ihrem eigenen Anteil freuen sich die Jünger, Jesus wiederzusehen. Und zur Bekräftigung sagt Jesus noch einmal: „Friede mit euch!“ (Vgl. Joh 20,19-21)
Max Frisch prägt in einem seiner Tagebücher für diese Haltung ein treffendes Bild: Dem anderen die Wahrheit nicht wie einen nassen Lappen ins Gesicht schlagen, sondern wie einen Mantel hinhalten – zum Anziehen!
So können Wunden zu Erkennungszeichen und zu Verbindungszeichen einer innigen Beziehung werden – genau in dem Maß, wie es ein Wachsen in gegenseitiger Sensibilität und Achtung gibt!
Gott, je klarer ich mich selbst erkenne, desto klarer erkenne ich die anderen. Und je tiefer ich mich selbst verstehen lerne, desto tiefer lerne ich die anderen verstehen. In der Bibel lese ich: „Liebe den anderen, denn er ist wie du.“[1] Hilf mir, gerade in belastenden Situationen anderen verbunden zu bleiben. So kann ich wachsen – mit ihnen gemeinsam.
Aus Aachen grüßt Sie
Spiritual Georg Lauscher
[1] Übersetzung nach Martin Buber