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Kirche in WDR 3 | 15.08.2024 | 07:50 Uhr

Loslassen

Mich fasziniert immer wieder das Meer. Es zeigt so viele Gesichter: mal plätschern die Wellen freundlich und harmlos an den Strand, bei starkem Wind oder Sturm donnert die Brandung mit lautem „Kawumm“! Da kann ich die Gewalt des Wassers körperlich spüren. Auch der ewige Wechsel der Gezeiten, Ebbe und Flut, rührt irgendetwas in mir an. Vielleicht, weil ich so einen ständigen Rhythmus auch in meinem Leben wiederfinde: die Jahreszeiten, festgelegte Abläufe im Alltag, einatmen und ausatmen, geben und nehmen.

Das Leben kennt auch seine Gezeiten. Und wenn wir von „Ebbe-Zeiten“ sprechen, klingt das meist ja erstmal negativ. Dabei hat die Ebbe an so einem Strand ja eine wichtige Funktion: Ebbe ist am Meer die Zeit des ablaufenden Wassers. Es zieht sich zurück und nimmt manches mit, was am Wassersaum liegt und schwimmfähig ist. Der Strand würde zumüllen ohne Ebbe. Manchmal braucht es so eine Art Müllabfuhr. Daher verbinde ich mit Ebbe am Meer eine positive Kraft.

Wie gut wäre es doch, wenn es so eine Kraft auch im Leben gäbe. Die das Angeschwemmte auch mal wieder mitnimmt. Denn im Laufe des Lebens sammelt sich ja viel an: Schuhe, Bücher, Handys, Stehrümchen, Tausende Fotos zum Beispiel. Und dazu liegt auch virtuell oder geistig vieles am Seelenstrand: Gedankenkarusselle, Sorgen, Überzeugungen, Beziehungen, Bedürfnisse. Wenn ich das für mich zusammentragen würde, könnte ich sicherlich eine ganze Seite vollschreiben. Dann die Frage, die sich aufdrängt: Was davon brauche ich eigentlich wirklich? Und was ist übrig, also Ballast? Was schleppe ich mit mir herum? Und hindert mich sogar daran, freier zu atmen und zu leben?

Wie befreiend es sein kann, sich darüber mal Gedanken zu machen, habe ich erlebt bei Einkehrtagen mit 20 Polizistinnen und Polizisten. Wir waren auf der Insel Juist und haben uns am Strand genau damit beschäftigt, mit dem Ballast im Kopf und im Herzen. Und auch mit der ein oder anderen Haltung, die das Leben schwer macht: Angst zum Beispiel, oder Eifersucht, Neid, Unzufriedenheit. Solche Dinge loszulassen, sie abzugeben kann das Leben sehr erleichtern. Und mit Blick auf den Strand haben wir uns die Kraft der Ebbe zunutze gemacht. Die Teilnehmenden konnten das, was sie loswerden wollten, auf umweltfreundliches Papier schreiben und daraus ein Schiffchen falten. Das konnten sie dann dem Meer bei Ebbe anvertrauen. Und sich so die Last von der Seele schreiben und sehen, wie das Meer sie mitnimmt.

Einen zweiten Papierbogen konnten die Teilnehmenden beschreiben mit Kränkungen und Verletzungen, die sie in der Vergangenheit erlebt haben. Und auch diese als Schiffchen ins Meer abgeben.

Und ich kann Ihnen sagen: So eine Übung kann richtig gut tun. Weil ich mich nicht nur in Gedanken mit meinem Ballast und meinen Verletzungen beschäftige. Sondern ich kann sie sehen und anfassen, wenn ich sie aufschreibe oder auch -male.

Wenn ich mir zum Beispiel meine Verletzungen von der Seele schreibe, dann kann ich vielleicht auch dem- oder derjenigen verzeihen, der mir die Wunden zugefügt hat. Wenn ich diese loslassen kann, muss ich meine Kränkungen nicht mehr wie in einer Vitrine sammeln und sie täglich anschauen. Das heißt, ich erleichtere mich selbst dadurch, dass ich verzeihe. Das muss die betreffende Person gar nicht wissen.

Das Meer hat die Schiffchen mitgenommen. Gut, das ein oder andere wurde erstmal zurück an den Strand gespült. Manche verschwanden aber tatsächlich in der Ferne. Und damit auch manche Last von den Schultern des jeweiligen Absenders, der Absenderin. Schon irgendwie auch im Sinne Jesu. Der hat den Menschen auch unnötige Lasten von den Schultern genommen und sie von quälenden Gedanken befreit. Und Vergebung war ja sowieso sein Ding.

Auch wenn wir hier in Nordrhein-Westfalen keine Küste mit Strand haben, kann ich Ihnen nur empfehlen, sich mal den Ballast von der Seele zu schreiben. Und sichtbar und fühlbar loszulassen. Und wie Sie den dann in einer Geste loswerden können, das können Sie unterschiedlich gestalten:

Indem sie den Zettel zum Beispiel irgendwo draußen verbrennen; da können Sie zugucken, wie das Feuer den Ärger vernichtet. Oder Sie besorgen sich einen Luftballon mit Gas, hängen das Papier da dran und lassen ihn steigen. Oder wenn Sie richtig Wut rauslassen wollen, wickeln Sie Ihren Ballastzettel um einen Stein. Dann mit abbaubarer Kordel festbinden und in einen Fluss oder Teich werfen, mit voller Kraft! Wenn niemand in der Nähe ist, vielleicht noch einen Schrei oder Seufzer hinterherschicken. Vielleicht haben Sie ja noch andere Ideen; wenn Sie Lust haben, schreiben Sie mir gerne.

Wie immer Sie Ihren Ärger auch loslassen: was Sie aufgeschrieben haben, ist erstmal weg. Und Sie können tief durchatmen.

Herzlich grüßt aus Hattingen Pastoralreferent Martin Dautzenberg.

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