Beiträge auf: wdr3
Kirche in WDR 3 | 26.08.2024 | 07:50 Uhr
Das Pergament Valley des Mittelalters
Das Pergament Valley des Mittelalters
Manche Vergleiche hinken wie Hermann der Lahme – aber zu Hermann erst später mehr. Im April jedenfalls stand ich in Konstanz und bemühte einen Vergleich. Und der war ziemlich gewagt. Aber was sollte ich tun? Ich wollte meinem Patenkind vermitteln, warum Konstanz für eine bestimmte Zeit Zentrum des Abendlandes war. Ich spreche vom Konstanzer Konzil, 1414 bis 1418. Damals war die katholische Welt versammelt am Bodensee. Und weil sich mein pubertierendes Patenkind eher für Computer als für die Kirche interessiert, wählte ich folgenden Vergleich: „Konstanz war damals so wie San Francisco heute. Eine Brückenstadt. Verkehrsgünstig gelegen. Günstiges Klima, guter Wein im Hinterland. Und: während San Francisco vom nahen Silicon Valley lebt, war für Konstanz die nahe gelegene Insel Reichenau ein Faktor. Quasi: Das Pergament Valley des Hochmittelalters“.
Und in der Tat: Wer die Reichenau nur kennt unter dem Label „Die Gemüseinsel“– um sie von der „Blumeninsel“ Mainau zu unterscheiden – der vergisst, dass die Reichenau ein echter Faktor war in der Zeit, als in Europa Lesen und vor allem Schreiben nur ganz wenigen vorbehalten war. Die Reichenau war einst eine Mönchsrepublik. Und: sie war ein „Think Tank“.
724 gegründet vom Heiligen Pirmin, der von Irland aus mit 40 Mönchen auf die Insel zog. Schon 780 erhebt Karl der Große die Klosterinsel zur Reichsabtei, er kommt sogar persönlich vorbei und macht sie zur zentralen Schreibstube des Heiligen Römischen Reiches. Der Kaiserhof ließ die meisten schriftlichen Angelegenheiten von den Benediktinern auf der Au erledigen, im „Pergament Valley“.
Wie viele Mönche über die Jahrhunderte auf der Reichenau gelebt haben, das kann ich gar nicht sagen. Aber einige Namen sind noch immer unvergessen. Einer davon ist eben: Hermann der Lahme. Er war ein bedeutender Wissenschaftler, Schriftsteller und sogar Komponist. „Wunder des Jahrhunderts“[1] wurde er genannt. So übersetzte er wichtige Schriften der Mathematik und der Astronomie aus dem Arabischen. Ohne ihn wäre dieses Wissen im Abendland nicht zugänglich gewesen. Hermann der Lahme war quasi das Google-Translate des Hochmittelalters. Ungefähr vor 1000 Jahren trat er ein ins Kloster Reichenau, wo er 1054 starb.
Ich bin mir sicher, ohne das Klosterleben wäre Hermann einer von zahllosen Krüppeln gewesen, die im Schlund des Vergessens gelandet sind. Die Taktung des Klosters aber gab jene Stabilität für sein Wirken. Während Computer gemeinhin mit der Taktung 1 und 0 operieren, ist der binäre Code der Klöster seit dem Heiligen Benedikt: Beten und Arbeiten. Wir schauen heute oft auf Klöster mit wunderlichem Abstand, vergleichen Klostermauern mit Gefängnissen. Dabei haben Klöster es in sich – im wahrsten Sinne! Ich finde, an dem Vergleich zum Computer ist etwas dran: Die Klöster waren mit ihrem – zugegeben – strengen aber hocheffizienten Lebensprogramm so etwas wie die Super-Prozessoren der Wissensvermittlung. Ihre Bibliotheken waren wie Wikipedia: Wissensspeicher. In den Schreibstuben wurde nicht nur kopiert. Auch in der Bildbearbeitung waren die Klöster zur damaligen Zeit führend – einsame Spitze dabei: Die Reichenau.
Und: Die Mönche auf der Reichenau haben nicht nur Bücher kopiert. Sie haben auch Werke verfasst, die noch heute bekannt sind. Manche davon sind dabei gar nicht fromm, sondern ganz handfest: So der sogenannte „Hortulus“, von Abt Walahfrid Strabo: eines der frühesten Werke zur Gartenpflege. 840 entstanden auf der Reichenau. Wo immer Sie heutzutage einen sogenannten „Klostergarten“ angelegt sehen, orientiert sich die Bepflanzung an eben diesem Buch. Auch der Klostergarten, der auf der Reichenau seit diesem Jahr in neuer Pracht wächst, zum 1.300. Jubiläum der Klosterinsel.
Und hier schließt sich der Kreis von „Gemüseinsel“ und „Klosterinsel“ und auch der nahgelegenen „Blumeninsel“: Die Klöster waren Inseln des Wissens und des Gebets im Meer des Mittelalters. Vieles von dem, was unser Leben ausmacht, wuchs im wahrsten Sinne aus dem Dung hervor, den die Benediktiner kultiviert hatten, die Erbauer Europas.
Aus Köln grüßt Sie, Klaus Nelißen
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_von_Reichenau