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Kirche in WDR 3 | 07.09.2024 | 07:50 Uhr
Zeit und Tee (Ostfriesische Teezeremonie)
Guten Morgen,
haben Sie sich heute schon Zeit genommen und eine Tasse Tee getrunken?
So wie die meisten Menschen in Ostfriesland, wenn sie sich einen Tee aufgießen.
Am letzten Tag einer Fahrt auf die Nordseeinsel Borkum durften eine Gruppe Studierender und ich eine echte ostfriesische Teezeremonie erleben.
Es ist beinahe eine Wissenschaft für sich – wenn man alle Schritte sorgfältig berücksichtigt.
Als Erstes wird ein Kluntje, ein Stück Kandiszucker, in das sehr kleine, feine und dünne Teetässchen gelegt. In einer schweren Silberkanne ist heißer Tee mittlerweile aufgebrüht und wird über den Kandis gegossen, bis die Tasse halbvoll ist.
Es knistert und bitzelt wunderbar, weil der Kandis auf die Hitze reagiert.
Dann werden in einem dritten Schritt zwei bis drei Tröpfchen Sahne entgegen dem Uhrzeigersinn in die Tasse gegeben. Und Achtung: Nicht umrühren!
Der Löffel, so wurde uns erklärt, liegt nur anstandshalber auf der Untertasse und darf nicht bewegt werden! Die Sahnekleckse auf dem heißen Tee verändern sich und sehen fast wie kleine Kunstwerke aus.
Danach wird der Tee in drei Schlückchen getrunken. Der erste schmeckt noch etwas bitter, der zweite nimmt den Geschmack der Sahne mit auf, und der dritte schließlich die Süße des Kluntje. Die ganze Prozedur geschieht dreimal hintereinander, wenn ein Ostfriese eingeladen und irgendwo zu Gast ist. Das gebiert der Anstand. Danach erst darf die Tasse zugedeckt werden, um zu signalisieren, dass genug Tee konsumiert wurde.
„Tee trinken ist wie das Leben“, erklärte uns darum auch der Zeremonienmeister, ein echter Norddeutscher, der seit langem auf Borkum lebt.
„Mal schmeckt es bitter, mal süß und mild.“
Und ich soll jeden Schluck genießen, mir genügend Zeit dafür nehmen – mir sogar gewissermaßen eine Pause von der Zeit gönnen:
dass die Sahne gegen den Uhrzeigersinn gerührt wird, bedeutet nämlich, dass damit symbolisch die Zeit angehalten wird. Wie bei einer Stopptaste!
Einfach mal alles anhalten, Abwarten und Tee trinken.
In diesem Moment mal nicht arbeiten, an den Alltag denken oder die Sorgen und Probleme dieser Welt wälzen. Einmal alle Aufgaben vergessen, die noch nicht erledigt sind.
Und sich Schlückchen für Schlückchen einen Moment der Muße und Ruhe gönnen.
Das Leben wartet ja sowieso schon wieder vor der Tür mit all seinen – auch bitteren - Herausforderungen.
Die Symbolik, die in dieser Zeremonie steckt, hat mich sehr berührt. Und mich daran erinnert: Diesen Wechsel von Arbeit und Ruhe – den gibt es auch in meiner jüdisch-christlichen Glaubenstradition. Der Sabbat und der Sonntag werden als Ruhetage begangen.
Davon erzählt die Bibel schon gleich zu Beginn im ersten Buch Mose.
Die Welt droht immer mehr zu kippen, ihre Balance zwischen „Machen“, dem „Immer weiter so“ und der Stopptaste ist längst gefährlich ins Wanken geraten.
Vielleicht fange ich damit an, die Zeit einfach kurz einmal anzuhalten, indem ich symbolisch die Sahne gegen den Uhrzeigersinn in meiner Teetasse rühre.
Und mir damit bewusst mache, wie kostbar jeder dieser Momente in meinem Leben ist.
Einen Tag mit Ruhepausen wünscht Ihnen, Ihre Pfarrerin Christiane Neufang aus Köln.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze