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Kirche in WDR 3 | 11.12.2024 | 07:50 Uhr
Der Goldbarren
Guten Morgen.
Ich mache gerade in der Wintersonne eine kleine Pause auf meinem Bänkchen vor der Haustür, da steht er vor plötzlich vor mir. Er trägt eine FFP2-Maske, so dass ich nur einen kleinen Teil seines Gesichtes sehen kann. Schmal wirkt er unter seinem großen, roten handgestrickten Pullover. Er spricht leise: „Sie machen doch hier so ein Essen für arme Menschen, Menschen ohne Wohnung und so.“ „Ja, die Vesperkirche läuft gerade drüben in unserer Marienkirche“, sage ich. „Ich möchte Ihnen etwas dafür geben.“ Er streckt mir eine kleine Plastiktüte entgegen.
Ich frage: „Möchten sie sich zu mir setzen und erzählen, was in der Tüte ist?“ Er setzt sich, schaut mich aber nicht an: „Sie brauchen keine Angst zu haben“, sagt er, „es ist nicht illegal, und es ist auch nicht geklaut. Ich brauche es nur nicht.“ Ich bin neugierig und luge in die Tüte. Ich ziehe ein Knäuel Zeitungspapier heraus und packe es aus. Dann halte ich einen Goldbarren in der Hand. Ich habe keine Ahnung von Gold, aber ich ahne, das hier ist richtig viel wert. „Meine Güte! Das ist aber großzügig“, sage ich, „würden Sie mir Ihren Namen sagen? Und mögen Sie mal erzählen, wie Sie dazu kommen, uns das zu geben?“ Nein, das will der Mann mit dem roten Pullover nicht. Als sei ich ihm mit meinen Fragen zu nahekomme, steht er rasch auf. Nicht ohne mir noch einmal zu versichern, dass mit dem Geschenk alles in Ordnung ist: „Wirklich, es ist legal. Glauben Sie mir. Ich brauche es nur nicht.“
Ich kann mich gerade noch bedanken. Dann geht er. Eine Weile starre ich ihm noch hinterher. In meinem Arbeitszimmer gebe ich die Prägung des Goldbarrens im Internet ein. Ehrlich gesagt bin ich doch ein bisschen misstrauisch: So etwas habe ich eben noch nie erlebt.
Das Internet sagt mir, dass ich gerade mehrere Zehntausend Euro in der Hand halte. Mein Herz pocht. Ich rufe den Projektleiter unserer Vesperkirche an. Auch die Leiterin unserer Finanzabteilung kommt sofort. Sie brauchen ein paar Stunden der Klärung, dann ist sicher: Es stimmt alles, was der Mann mit dem roten Pullover gesagt hat. Alles ist legal. Er hat uns einfach ein riesengroßes Geschenk gemacht.
Die Tage danach sind aufregend. „Hat er wirklich nicht mehr gesagt?“ „Wie sah er aus?“ „Würdest Du ihn wieder erkennen?“ Und immer wieder: „Warum hat er das bloß gemacht?“
Ich kann nur das Wenige wiederholen. Ein Mann mit einem roten Pullover. Ich kenne ihn nicht. Ein guter Mensch.
Und das bleibt bei mir haften: Ist der Mensch vielleicht doch nicht von Grunde auf böse und egoistisch, sondern ist der Mensch „im Grunde gut“? Das sagt der niederländische Philosoph Rutger Bregman und spricht sogar statt vom „survival of the fittest“ – also vom Überleben der Fittesten - vom „survival of the friendliest“ (1): Die Freundlichsten werden überleben. Selig sind sie. Hat Jesus das nicht so ähnlich gesagt? (2)
Ich glaube: Selig ist der Mann mit dem roten Pullover. Ich würde Sie gerne noch einmal wiedersehen. Ich hoffe, wo immer Sie sind, Sie leben noch lange und glücklich.
Es grüßt Sie, Pfarrerin Christel Weber aus Bielefeld.
Quellen:
(1) Rutger Bregman, Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit (übersetzt von Ulrich Faure), Hamburg (Rowohlt) 2020.
(2) Die Bibel, Matthäus 5,1-10.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze