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Kirche in WDR 3 | 12.12.2024 | 07:50 Uhr
Zerbrochene Brille
Guten Morgen.
Die Frau hatte ihre Tochter zur Taufe angemeldet. „Ich wollte sie eigentlich schon früher taufen lassen, aber ich hatte immer wenig Geld.“, sagt sie. Die Frau ist alleinerziehend, ihre Tochter ist jetzt im Grundschulalter. Sie will nicht, dass ich sie zuhause besuche. Sie kommt mit ihrer Tochter zum Taufgespräch in mein Pfarrhaus. Die Taufe wird im Gottesdienst der Gemeinde sein. Wir gehen die Liturgie durch, sprechen über die Tauffragen. Die Frau hört aufmerksam zu, wenn auch etwas verunsichert. Die Gemeinde wird sich freuen, bei der Taufe des aufgeweckten Mädchens dabei zu sein, denke ich.
Dann ist der Sonntag da. Als Mutter und Tochter zum verabredeten Zeitpunkt in die Kirche kommen, muss ich erst einmal schlucken: Das rechte, dicke Brillenglas der Frau ist in x kleine Stücke gesprungen. Sie erzählt leise, dass ihr das vor ein paar Tagen passiert ist. Als ich sie frage, ob sie denn schon beim Optiker war, sagt sie: „Im Moment habe ich kein Geld für eine Reparatur.“
Wir feiern Gottesdienst, ich rufe das kleine Mädchen und seine Mutter zur Taufe. Jetzt stehen sie vorne am Taufstein mit dem Rücken zur Gemeinde, ich stelle die Tauffragen, wir bekennen als Gemeinde alle zusammen unseren Glauben, das Mädchen wird getauft und gesegnet. Die beiden strahlen. Aber als sie sich umdrehen, um wieder in die Bank zurückzugehen, sehe ich, wie die ganze Gemeinde voller Entsetzen auf das gesprungene Brillenglas der Taufmutter schaut. Einige tuscheln. Ich ahne, worüber sie reden.
Direkt nach dem Gottesdienst kommt ein Mann auf mich zu. Er ist empört: „Hätten Sie nicht Geld aus der Diakoniekasse nehmen können und der Frau eine neue Brille bezahlen können? Das muss doch wirklich nicht sein.“ Andere kommen dazu, sind sichtlich aufgeregt.
Währenddessen steht die Frau mit ihrer frisch getauften Tochter am Rand. Keiner geht auf sie zu. Keiner gratuliert ihr und ihrer Tochter. Niemand heißt sie in unserer Gemeinde willkommen. Alle sehen nur das kaputte Brillenglas.
Das ist jetzt schon eine Weile her. Zu der Frau und ihrer Tochter habe ich keinen Kontakt mehr. Das Erlebnis sitzt aber immer noch tief. Es tut mir weh, wie wir uns als Gemeinde verhalten haben. Klar hätte ich die Frau später noch fragen können, ob wir sie finanziell unterstützen dürfen. Aber zuerst hätten wir uns doch mit den beiden freuen und in die Hände klatschen sollen!
Die Bibel erzählt, dass Johannes in der Wüste unterwegs ist und predigt. Menschen kommen in Scharen zu ihm, um sich taufen zu lassen. Dabei redet er offensiv von Umkehr. Und dass sie in eine vorbehaltlose solidarische Lebensgemeinschaft hinein getauft werden. Da ist in unserer Kirche noch viel Luft nach oben. Ich denke noch oft an die Frau und ihre Tochter. Mir tut es von Herzen leid, was ihnen passiert ist.
Es grüßt Sie, Pfarrerin Christel Weber aus Bielefeld.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze