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Kirche in WDR 3 | 02.01.2025 | 07:50 Uhr
Zauber des Neuen
Noch ist es jung, das neue Jahr. Und für mich gilt hier, was Hermann Hesse wunderbar in seinem Gedicht „Stufen“ aus dem Jahr 1941 beschrieben hat. Hesse schrieb es nach langer Krankheit und da heißt es dann:
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen.“
Hesse nannte das Gedicht ursprünglich „Transzendieren!“ und markierte damit den Wandel und das Überschreiten von Einem ins Andere. Daher lese ich die Verse auch nicht nur auf geographische Räume, sondern auch auf Zeiträume hin:
„Wir sollen heiter Jahr um Jahr durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen.“
Klar, uns bleibt ja eigentlich gar nichts anderes übrig, zumal die Zeit fließt und damit nichts bleibt wie es war, sondern Wandlung das Leben bestimmt. Aber wichtig ist für mich das, was Hesse da genauer sagt: Wir sollen nämlich diesen Weg heiter gehen. Allerdings ist das gar nicht so einfach. Das ist schon eine größere Herausforderung. Selbst wenn ich nicht von den Existenzsorgen betroffen bin wie die Mitarbeiter von Thyssen Krupp Steel oder auch die von VW. Deren Zukunft sieht ja nicht gerade heiter aus. Und überhaupt: Die Heiterkeit kann schon mal verlorengehen. Da genügen schon kleinere Anlässe wie Konflikte in der Familie oder im Freundeskreis. Und trotzdem schreibt Hesse das: heiter weitergehen. Für mich klingt das wie eine Herausforderung oder fast schon wie eine Zumutung.
Ein neues Jahr ist gestartet, völlig unbenutzt liegt es vor uns. Und so starte ich gerade in den neuen Zeitraum 2025.
Und mehr ernst als heiter frage ich mich: Was wird wohl kommen? Und bleibt es beim Zauber des Neuen – oder entpuppt das Neue sich zu schnell als Enttäuschung, Widerfahrnis, gar Verhängnis?
Bei mir persönlich hat sich mit dem Jahreswechsel bereits einiges geändert. Meine Berufstätigkeit habe ich Ende 2024 abgeschlossen, und jetzt bin ich sehr gespannt, ob es mir auch gelingt, meinen neuen Zeitraum heiter zu durchschreiten.
Oder möchte ich doch eigentlich am Liebsten das Alte konservieren? Vielleicht bin ich ja doch noch zu verhaftet in den Erfahrungen, Sorgen und Konflikten des vergangenen Jahres?
Von einer neuen Begebenheit in meinem Leben will ich aber noch erzählen, weil sie – so denke ich – eine sehr weitreichende Perspektive eröffnet. Ich bin Großmutter geworden und freue mich sehr über mein Enkelkind. Da beginnt ein neues Leben. Welche Zeiträume werden sich hier neu auftun? Kinder in die Welt zu setzen ist letztlich eine positive Aussage in die Zukunft. Rabindranath Tagore, ein bengalischer Philosoph und Dichter hat das in einem zuversichtlichen Spruch zusammengefasst:
„Jedes Kind bringt die Botschaft, dass Gott die Lust am Menschen noch nicht verloren hat.“
Und ich denke mir: Vieles, was in meinem Leben nicht mehr möglich ist oder nicht mehr wahrscheinlich ist, kann dieses neue Menschenkind vielleicht erleben.
Und was mache ich jetzt mit meinem noch ganz unbenutzten Jahr 2025? Traue ich mir einen Neustart zu? In welchem Bereich wäre das dann wohl? Vielleicht mit einem ganz neuen Hobby oder Ehrenamt? Ideen dazu habe ich mehr, als in 365 Tagen mit 24 Stunden umzusetzen wären.
Oder wird die Kraft, die mich ins Gewohnte zurückzieht, doch zu groß sein? Denn so viel Schönes, wie ein Neuanfang verheißen kann, so beängstigend kann er auch sein. Viele Menschen bleiben lieber beim Vertrauten, auch wenn sie dabei unglücklich sind, als dass sie sich einen Neustart zutrauen.
Das Evangelium hält da ein Wort Jesu bereit, das er wie ein Programm über seine Lehre gestellt hat (vgl. Mk 1,15): Wagt es einfach, kehrt um und probiert eine neue Form eurer Lebensgestaltung und Lebensentfaltung. Ihr braucht nicht im Alten verhaftet zu bleiben. Kehrt um und glaubt an die gute Nachricht, dass euer Leben bestimmt ist für die Fülle, für die Freiheit und für die Begegnung. Glaubt an die gute Nachricht, dass 2025 trotz aller Herausforderungen im persönlichen Leben, in der Gesellschaft und in der Weltpolitik ein Leben in Fülle bereithält.
Ihre Ingelore Engbrocks aus Oberhausen.