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Kirche in WDR 3 | 14.01.2025 | 07:50 Uhr
Mehr beim Du sein – Das Mädchen in der Straßenbahn
Es ist frühmorgens in der Straßenbahn. Die Schulferien sind vorbei, und die Bahn ist voll. Ich bin unterwegs zur Arbeit, und die Welt um mich herum fühlt sich an wie ein graues Rauschen. Alle Fahrgäste wirken noch ein bisschen träge. Nur an den Haltestationen wird es hektisch und chaotisch. Ein kurzes Gedränge. Türen auf, Menschen strömen raus und wieder rein. Die Türen schließen, die Bahn setzt sich in Bewegung, und ich lehne mich wieder an die geschlossene Tür. Meine Kopfhörer schirmen mich ab; ich höre Radio. In spätestens sechs Stationen werde ich mit der Masse hinausgespült.
Dann die nächste Haltestelle. Schülerinnen und Schüler sind es, die jetzt herausströmen. Nur ein kleines Mädchen bleibt im Gang stehen. Ihr Schulrucksack ist viel zu groß, und vor ihr stehen drei Erwachsene wie eine Mauer – groß, stumm und in Gedanken versunken. Das Mädchen hebt den Blick, sieht zu den Rücken hinauf. Keine Reaktion von den Erwachsenen vor ihr. Zu schüchtern, zu ängstlich, um etwas zu sagen, bleibt sie stehen. Ich sehe ihr förmlich an, was in ihrem Kopf vor sich geht: Wenn sie es nicht schafft auszusteigen, schafft sie es nicht mehr pünktlich zur ersten Stunde.
Dann regt sich ein Mann neben mir. Er nimmt seine Kopfhörer ab, lehnt sich zu einer Frau, die im Weg steht und deutet auf das Mädchen. „Entschuldigung, die Kleine möchte raus.“ Und plötzlich wird der Weg frei. Mit gesenktem Kopf und ohne ein Wort schlüpft das Mädchen hinaus und die Türen schließen sich wieder. Der Mann zieht die Kopfhörer auf, und alles ist wie zuvor.
Nur in mir nicht. Ich bin wütend.
Nicht über das Mädchen, nicht über die anderen, sondern über mich. Ich hatte das Mädchen doch auch gesehen, und ihre Unsicherheit gespürt. Aber ich habe dann einfach nur zugeschaut. Sonst nichts. Warum? Weil ich zu beschäftigt mit mir selbst war, Und zu wenig über mich selbst hinaus gedacht habe. Mit dem unterbewussten Vertrauen: Das regelt jemand anderes.
Stimmte ja in diesem Fall. Aber ist das nicht eine ziemlich billige Entschuldigung?
Wie hatte doch noch ein Professor in meinem Theologiestudium gesagt: Wenn ihr Christen sein wollt, dann muss euer „Ich ganz beim Du sein.“ Schwieriger Gedanke, aber er hat mich schon damals im Studium fasziniert. „Das ganz beim Du seiende Ich.“ Der Professor hat das dann auf Jesus bezogen: Der hat nie einfach nur zugesehen. Nie gedacht: „Das soll mal jemand anders machen.“ Stattdessen hat er Menschen gesehen – wirklich gesehen. Den Hungrigen, den Kranken, den Einsamen. Er hat nicht gewartet, sondern gehandelt. Ohne große Reden, oft nur mit einer Geste. Aber diese Gesten haben Leben verändert.
Und ich? Ich bin viel zu oft bei mir. Bei meinen Gedanken, meinen Problemen, meinem Alltag. Als Christ sollte ich es eigentlich besser wissen. Aufmerksam sein. Hinsehen. Und vor allem: Handeln. So wie der Mann in der Bahn.
Denn – und das habe ich auch aus meinem Studium behalten –, einen Satz des jüdischen Philosophen Martin Buber. Der sagt: „Der Mensch wird erst am Du zum Ich.“ Auch ein komplizierter Satz. Aber am Ende auch einfach: Da, wo ich für andere da bin, werde ich Mensch.
Aus Köln grüßt Sie Gerald Mayer