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Kirche in WDR 3 | 15.01.2025 | 07:50 Uhr
Der Tisch der Brüderlichkeit – Spaltung vor der Bundestagswahl
96 Jahre alt wäre Martin Luther King heute genau geworden, wenn er noch leben würde. 1929 ist er in Atlanta im US-Bundestaat Georgia geboren worden, also in den amerikanischen Südstaaten zur Zeit der Rassentrennung. Ich kenne ihn zwar nur aus dem Geschichtsunterricht und natürlich von eindrücklichen Dokumentarfilmen, denn ich bin viel zu jung, um ihn selbst erlebt zu haben. Aber er ist für mich eine wirklich besondere, historische Figur.
Seine Rede von einer anderen Zukunft in Gleichheit und Gerechtigkeit. „I have a dream“, hat er damals gerufen, „Ich habe einen Traum“. Und dann sein tragischer Tod: erschossen von einem mehrfach vorbestraften Rassisten.
Ein Satz aus Martin Luther Kings Rede ist mir all die Jahre in besonderer Erinnerung geblieben:
„Ich habe einen Traum, dass eines Tages die Söhne von früheren Sklaven und die Söhne von früheren Sklavenhaltern auf den roten Hügeln von Georgia in der Lage sind, sich gemeinsam an den Tisch der Brüderlichkeit zu setzen.“[1]
Was für ein Bild: Der Tisch der Brüderlichkeit. – Heute würde man vielleicht eher sagen: Der Tisch der Geschwisterlichkeit. Und an diesem Tisch sitzen die Nachfahren der Verfolgten, der Versklavten, der Geschlagenen, Eingesperrten und der Ermordeten zusammen mit den Nachfahren all derer, die dieses Leid verursacht haben.
Ich bin mir sicher, dass dieser Traum Martin Luther Kings von damals heute schon Wirklichkeit ist: Irgendwo im US-Bundesstaat Georgia sitzen in einem BBQ-Restaurant zwei Familien zusammen, die vor 60 Jahren nicht einmal im gleichen Stadtviertel hätten wohnen können und essen und trinken und unterhalten sich ganz ungezwungen.
Aber gleichzeitig ist dieser Traum vom Sitzen am geschwisterlichen Tisch noch weit weg. Wenn ich mir nämlich die politischen Diskussionen in unserem Land ansehe, dann nehmen da auch nicht alle Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher politischer Gruppen Platz an einem Tisch – geschweige denn, dass sie überhaupt miteinander reden würden. Eher reden sie an getrennten Orten übereinander.
Ich sehe da Menschen, die sich gegenseitig nicht mehr zuhören, die nur noch in ihren eigenen Kreisen diskutieren, die andere Meinungen nicht mehr gelten lassen.
Aber das ist gefährlich – gerade in einer Demokratie, die darauf aufgebaut ist, verschiedene Meinungen und Positionen zuzulassen – solange sie nicht verfassungswidrig sind. Demokratie lebt doch davon, dass wir miteinander reden. Dass wir Unterschiede aushalten und dann gemeinsam nach Lösungen suchen.
Martin Luther King hat für das Recht gekämpft, dass alle Menschen in unserer Gesellschaft einen Platz am Tisch haben. Und dass damit dann auch alle Menschen aller Hautfarben, Religionen, aller Einkommensschichten und jeden Alters anEntscheidungen teilhaben können.
In etwas über einem Monat ist die vorgezogene Bundestagswahl in unserem Land. Hier wird sich zeigen, ob sich unsere Demokratie bewähren wird. Angefangen von der Wahlbeteiligung bis hin zur inhaltlichen Frage: Nach welchen Werten wollen wir zukünftig leben. Werden die Spaltungen in unserer Gesellschaft größer, oder schaffen wir es, sie zu überwinden? Ich bin davon überzeugt: Demokratie braucht eine Kultur des Zuhörens und des Sprechens. Und das geht am besten, wenn man sich an einen Tisch setzt!
Das ist sicherlich nicht leicht. Aber, es lohnt sich, wenn es um eine friedliche und gerechte Gestaltung der Zukunft geht – von der ich überzeugt bin, dass wir sie nötig haben und sie uns tief in unserem Herzen wünschen.
Aus Köln grüßt Sie Gerald Mayer.
[1] Zitiert nach: https://www.gem-wue.de/fileadmin/mediapool/gemeinden/E_missionarischedienste_neu/Hauskreisarbeit/Bibel_aktuell_146_-_7._Rede_-_I_have_a_dream_-_Text_und_deutsche_UEbersetzung.pdf .