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Kirche in WDR 3 | 13.03.2025 | 07:50 Uhr
Tyrus und Sidon oder: Der lernende Jesus
Beim Krieg zwischen Israel und der Hisbollah wurde im letzten Jahr mehrfach das Gebiet von Tyrus und Sidon im Libanon bombardiert – zwei Städte, die heute etwa 20 bzw. 60 km hinter der israelischen Grenze liegen. Es sind Städte, die eine biblische Tradition haben: Außer verfolgten Propheten wie Elija zog sich auch Jesus mal hierher zurück (vgl. Mt 15,21).
Die Jesus-Geschichte, die dort spielt, ist dabei – so finde ich – eine der bemerkenswertesten im ganzen Neuen Testament (vgl. Mt 15, 21-28). Sie zeigt zunächst einen sehr befremdlichen Jesus: Der begegnet einer Einheimischen, einer Frau, die ihn um Hilfe für ihre kranke Tochter bittet. Doch Jesus schaut auf die Ausländerin, die Andersgläubige herab und antwortet schroff:
„Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Es ist nicht recht, das Brot der Kinder zu nehmen und es den Hunden vorzuwerfen.“
Unglaubliche Töne aus dem Munde Jesu! Doch statt sich enttäuscht und empört abzuwenden, greift die Frau das Bild auf, und meint:
„Aber auch die Hündlein essen von den Brocken, die vom Tisch ihrer Herren fallen“.
Und dann passiert das, was fast noch unglaublicher ist: Jesus lernt! Er lernt von dieser Frau, dieser Heidin, und versteht besser, zu wem er eigentlich gesandt ist: Nicht bloß zu den Menschen, die immer schon dazugehört haben, sondern zu allen. Und so antwortet er:
„Frau, dein Glaube ist groß. Es soll dir geschehen, wie du willst.“
Natürlich ist die Geschichte bei den zahlreichen Christen, die noch heute im Libanon leben, beliebt – spielt sie doch in ihrer Heimat. Und schon im Altertum wurde in Tyrus ein Stein gezeigt, auf dem Jesus damals gesessen haben soll.
Auch ich liebe diese Geschichte, weil sie zeigt: Es ist nicht unter unserer Würde, alte Meinungen zu revidieren und selbst in Glaubensdingen dazuzulernen. Das gilt für mich persönlich, aber – wenn Jesus es vormacht – wohl auch für die Kirche als Ganzes.
Dabei ist es vielleicht wichtig zu sehen, wie diese Frau den Lernprozess Jesu ermöglicht. Sie ist bereit, Jesu Zurückweisung für den Moment zu schlucken und besteht doch hartnäckig auf ihrem Wunsch. Sie hört ihm zu, greift sogar das Vorurteil, das in seinem Bild von Kindern und Hunden steckt, auf und führt ihn von dort aus weiter.
Weder Herabsetzung hat das letzte Wort noch Ressentiment oder Zorn. Das versteckte Vorurteil, die letztlich falsche Überzeugung Jesu wird zunächst ernstgenommen – und dann entkräftet. So ist der schließlich bereit zu lernen, dass seine Sendung auch den Fremden gilt und dass Frieden zwischen „uns“ und „denen da“ werden soll.
Hier im Heiligen Land, wo ich den letzten Krieg miterlebt habe, ist mir sehr deutlich geworden, wie sehr das auch im Großen nötig ist: sich weiterentwickeln und Frieden lernen.
Karl May, der im Jahr 1900 hier in der Gegend war, schrieb danach, zum Pazifisten geworden:
„Wie man den Krieg führt, das weiß jedermann; wie man den Frieden führt, das weiß kein Mensch.“[1]
Angesichts der Jesus-Geschichte würde ich ergänzen: Aber wir können es lernen. So wie zum Beispiel Schülerinnen und Schüler an der christlichen Schneller-Schule im Libanon – nicht weit weg von Sidon. Egal ob Christen oder Muslime, Libanesen oder Flüchtlinge aus Syrien – sie lernen dort, friedlich miteinander zu leben.
Und vielleicht müssen wir ja alle – so wie Jesus – nochmal bei der Frau aus dem Gebiet von Tyrus und Sidon in die Schule gehen.
Aus Tabgha, nicht weit von der Grenze zum Libanon, grüßt Sie Georg Röwekamp
[1] Karl May, Ardistan und Dschinnistan, Band 1, 1909 (1. Kapitel. Eine Mission).