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Kirche in WDR 3 | 06.05.2025 | 07:50 Uhr
Es geht ja noch
Martin Schleske ist Geigenbauer und Schriftsteller. Er erzählt[1], wie er einmal das Holz für ein neues Cello bearbeitet. Diesmal ist es extrem anstrengend. Der Schweiß rinnt. Das Holz ist hart. Und dann stellt er fest: Die Schneide ist nicht mehr scharf. Das stumpfe Werkzeug macht die Arbeit schwer. Aber das Eisen zu schärfen bräuchte zusätzlich Zeit. Jetzt bloß keine Unterbrechung! Er macht weiter, redet sich ein: „Es geht ja noch!“ Da trifft es ihn wie ein Blitz: „Was hast du da gerade gesagt? Es geht ja noch?“ Und ihn überfällt eine große Traurigkeit. Als würde der Himmel sagen: Wie oft höre ich diesen Satz bei euch! Ich möchte euch schärfen, aber ihr sagt: „Es geht ja noch! Irgendwie geht es ja noch!“ Und dann macht ihr stumpf und stupide weiter.
Martin Schleske ist geschockt, macht eine Pause, kommt ins Nachdenken: Ja klar: Wenn ich stumpf geworden bin – wie mein Werkzeug –, dann lebe ich angestrengt und lustlos. Beziehungen, Pflichten, Arbeit, alles wird schwer und anstrengend. Doch es liegt an mir selbst: Ich habe mich von einem maßlosen Pflichtgefühl beherrschen und entmündigen lassen! Immer noch mehr schultern und schaffen – das macht mich auf die Dauer stumpf und stupide. Und ich verliere dann nicht nur das Gespür für mich selbst, sondern auch für die Menschen, mit denen und für die ich arbeite. Wenn ich zu viel arbeite, arbeite ich schlecht, ja verantwortungslos! Dass ich bei der Arbeit ermüde und abstumpfe, ist okay. Meine Kraft wird verbraucht. Das Problem fängt da an, wo ich abgestumpft weitermache und die Dinge nur noch erledige.
Wie der Geigenbauer muss ich meine Arbeit immer wieder unterbrechen. Je älter ich werde, desto öfter. Es ist meine Verantwortung, mich in meinem Tatendrang zu unterbrechen, um mich innerlich neu zu „schärfen“, zu klären, zu stärken. Und wenn ich mich sagen höre „Es geht ja noch!“, dann ist klar: Dieses Signal darf nur im Notfall missachtet werden!
Gott, lass uns merken, wann wir in den Anforderungen des Alltags eine Unterbrechung nötig haben. Wie oft habe ich erfahren, dass in der Unterbrechung ich mit neuer Kraft beschenkt werde. Es tut so gut, mich selbst zu relativieren und mir Zeit zu nehmen aus den inneren Quellen zu trinken.
Aus Aachen grüßt Georg Lauscher.
[1] Vgl. Martin Schleske, Herztöne – Lauschen auf den Klang des Lebens, München 2016, 12-21.