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Sonntagskirche | 12.01.2014 | 08:55 Uhr
Un-Fertig
Ich mag Unfertiges. Das Nicht-Perfekte. Nehmen Sie nur einmal die Sinfonie von Franz Schubert mit dem Namen „Die Unvollendete“. Ihr fehlen zwei Sätze zu einer echten Sinfonie. Mir ist das egal. Oder mehr noch: Ich finde es geradezu spannend, zu überlegen, wie die fehlenden Noten vielleicht klingen könnten. Die Unvollendete regt mich an. Meine Fantasie erblüht.
Natürlich ist ein unvollendeter Flughafen Berlin/Brandenburg nicht besonders witzig. Und wenn ich meine Arbeit nicht fertig bekomme, kriege ich eins auf den Deckel. Richtig so! Man kann ja schließlich nicht sein ganzes Leben in Bruchstücken hausen. Und eine Gesellschaft funktioniert schon mal gar nicht, wenn der Schaffner nicht mehr das Bahnticket kontrolliert und die Käsefachverkäuferin es beim Abwiegen des Camemberts nicht ganz so genau nehmen würde.
Aber solche vermeidbaren Unfertigkeiten meine ich ja gar nicht. Ich rede heute zu Ihnen, liebe Hörerin und lieber Hörer, von unserem Leben insgesamt, das doch eigentlich – wenn wir ehrlich sind – immer so ein bisschen unvollendet ist und bleiben wird. Da gibt es Beziehungen zwischen Menschen, die schön sind, und doch an irgendeiner Stelle immer auch unvollkommen: zwischen Eheleuten, Freundinnen, Eltern und Kindern. Manches bleibt dabei unverstanden. Manche Hoffnung wird wahrscheinlich nie so ganz erfüllt sein. Manches bleibt unfertig und offen.
Aber wenn man’s nun recht bedenkt, ist das doch mit dem Offen-Sein gar nicht einmal so schlimm. Oder ich sag lieber einmal: Das kann sogar der entscheidende Antriebsmotor für’s ganze Leben sein. Auf diese Art und Weise kann nämlich immer noch was Neues kommen. Ich bin noch nicht perfekt. Ich schaue mal, was vielleicht noch alles geht.
Mit dem Glauben ist das übrigens genauso. Als einer, der glaubt, habe ich nicht schon in allem Gewissheit. Ich bin in meiner Lebensentwicklung noch nicht fertig. Aber ich bleibe dem Geheimnis Gottes auf der Spur und folge meiner Sehnsucht nach dem Einssein mit Gott.
In der Bibel ist mir das als Zukunftsvision versprochen: „Einmal wird Gott alles in allem sein“ (1. Korinther 15,28). Das kündigt jedenfalls der Apostel Paulus an und will damit wohl sagen: Tatsächlich, es kommt einmal der Tag, da wird alles rund und richtig und fertig sein. Da gibt’s dann keine unfertigen Portraits mehr. Denn dann wird auch Gott nach seinem letzten Pinselstrich die Farbpalette aus der Hand nehmen und sagen: „Siehe, ich mache alles neu!“ (Offenbarung 21,5). Ende gut. Alles gut.
Aber da sind wir natürlich noch nicht. Wir alle schauen noch auf unsere unfertige Leinwand. Vieles an Farben und Formen ist noch ausgespart. Das kann man schade finden. Ich find’s toll. Unser Lebens-Gesamt-Kunstwerk steht ja noch aus. Aber das braucht Ideen, vor allem anderen aber viel Geduld. Geduld mit sich und anderen, die brachte Jesus auf. Ich kenne keine Geschichte über ihn, in der er mit der Brechstange zu Werke gegangen wäre, so unter dem Motto: „Heute Abend müssen alle Lahmen am Bezirksmarathon teilnehmen.“ Stattdessen nahm er die Nichtperfekten zur Seite und ermutigte sie zu kleinen Entwicklungsschritten. Und im Übrigen hatte auch er ab und zu mal keine Lust, permanent den guten Mann zu spielen. Manchmal war eben auch er unvollkommen.
Ich glaube, auch deshalb haben seine Freunde einen Spruch aus dem Alten Testament ganz besonders mit ihm in Verbindung gebracht: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen.“ (Jesaja 42,3) Jesus wusste nämlich: Ein müder Grashalm kann sich wieder aufrichten und eine matte Kerze neu aufflackern. Nehmen deshalb auch Sie, liebe Hörerin, lieber Hörer, seinen liebevollen Blick auf uns unvollendete Menschen in diesen Tag mit wünscht Ihnen Pfarrer Max Koranyi aus Königswinter.