Wie sich das Leben festkrallt

Guten Morgen,

Schritt für Schritt erklimmen wir den kleinen Berg. Der Waldweg ist vom Regen noch ein bisschen matschig. Geröll. Heruntergefallene Äste. Der Sturm hat seine Spuren hinterlassen. Um uns herum hohe Buchen, Eichen. Hier und da eine Fichte. Auf der einen Seite des Weges geht es steil bergab. Auf der anderen Seite ragt eine Wand aus Felsen, Steinen, Erde, Wurzeln und Moos neben uns empor. Direkt darauf wieder hohe Bäume. Wir bleiben stehen und sehen uns um. Eindrücklich dieser Wald. Wie Säulen eines Doms wirken die riesigen Baumstämme. Sie kommen aus der Tiefe und überragen uns noch. Es ist still. Hier und da ein Vogel, der zwitschert, ein Bach, der rauscht. Eine Kuhglocke von Ferne.

Und dann sehen wir es: Ein Baum ragt ein wenig aus der steinig-erdigen Wand neben uns heraus. Es ist eine stattliche Buche. Ihre Wurzeln gehen nicht komplett ins Erdreich. Sondern sie klammert sich an Felsen und die dünne Erdschicht. Die Wurzeln sind flach und viele Meter nach links und rechts ausgestreckt. Unterwegs haben wir schon etliche umgestürzte Bäume gesehen. Ihre Wurzelballen waren aus dem Erdreich gerissen. Mittendrin: kleinere Felsbrocken und große Steine. Fest von den Wurzeln umklammert, waren sie mit herausgerissen worden. Wir schauen nun auf den riesigen Baum neben und über uns. Und wie seine Wurzeln ein starkes Geflecht bilden. Überhaupt scheint die ganze Wand nur noch aus diesen Wurzeln zu bestehen. Wie kleine und große Arme klammern sie sich an die Felswand. Da sagt meine Freundin: „Hier sieht man, wie sich das Leben festkrallt.“

Mir gehen sofort Bilder von lebensgefährlichen Situationen durch den Kopf: Bergsteiger, die in Not geraten sind. Gekenterte, die sich an Bootsteilen festhalten. Der italienische Ex-Fußball-Profi Davide Capello, dessen Auto beim Zusammenbruch einer Autobahnbrücke in Genua zwischen den Säulen stecken blieb (1) – nachdem es dreißig Meter durch die Luft geflogen war. Wie durch ein Wunder überlebte er und wurde von den Rettern geborgen.

Gut, wenn bei alledem rechtzeitig ein Fels in der Brandung auftaucht. Wenn der Untergrund hält bis Hilfe da ist. Bergretter, Seenotretter, DLRG. Feuerwehr, Fischer oder Wanderer.

Leben, das sich festkrallt. Auf der Intensivstation, wo Kranke mit dem Tod ringen. Leben, das sich festkrallt. Am kargen und felsigen Untergrund. Mit weit ausladenden Wurzeln. Nicht nur eine einzige, sondern viele sind nötig, um den Baum zu halten und zu versorgen.

Meine Lebenswurzeln. Wo krallen sie sich fest. Wo finden sie Nahrung und Wasser. Wo finden sie Halt. Darüber denke ich öfter nach, seit dieser Wanderung. Und mir fällt da viel ein. Gott sei Dank. Und ich kann für mich sagen: Meine tiefsten Wurzeln finden ihren Halt im Glauben – oder besser: In dem, was mir als Gottes Wegweisungen überliefert ist. Da steht:

„Glücklich sind die Frau, der Mann, die nicht nach den Machenschaften der Mächtigen gehen, nicht auf dem Weg der Gottlosen stehen noch zwischen Gewissenlosen sitzen,

sondern ihre Lust haben an der Weisung Gottes, diese Weisung murmeln Tag und Nacht.

Wie Bäume werden sie sein – gepflanzt an Wasserläufen, die ihre Frucht bringen zu ihrer Zeit, und ihr Laub welkt nicht.“

(Psalm 1,2f Die Bibel in gerechter Sprache)

( 1 ) http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/ex-fussballprofi-davide-capello-ueberlebt-brueckeneinsturz-in-genua-15738750.html (letzter Abruf 21.08.2018)