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Sonntagskirche | 10.02.2019 | 08:55 Uhr
Erinnerungsschätze
Guten Morgen!
„Na, musst du wieder jeden Grashalm mit der Kamera festhalten?“ Meine Freundin lacht. Wir sind am Meer. Ich kann mich nicht sattsehen an den Farben. Und will das alles in Fotos bannen für trübere Zeiten. So, jetzt ist er im Kasten oder vielmehr auf dem Smartphone: Ein königsblauer Strandkorb mit rot, gelb, weiß, blau gestreifter Markise in den weißen Dünen, darüber hellblauer Himmel mit Schönwetterwölkchen und am Horizont das Meer. Ein richtiges gute Laune Foto. Wenn ich es heute anschaue und mich an diesen Urlaub erinnere, spüre ich den Sand unter meinen Füßen, rieche die salzige Meeresluft, fühle den warmen Wind auf meiner Haut, höre meine Freundin lachen. Ich sehe den Reetgedeckten Gasthof, der von blühenden Hortensien umgeben ist, den Leuchtturm und die blühende Heidelandschaft, durch die wir radeln. Sich erinnern ist mehr als ein Rückwärtsdenken. Wenn ich mich erinnere, wird die Vergangenheit lebendig. Ich fühle, was ich damals fühlte, ich rieche, höre, schmecke. Ah, war das schön.
Das, was ich erinnere, ersteht in meinem Inneren auf. Die Gefühle, die Gerüche, der Geschmack von damals – sie werden wach in mir. So als äße ich jetzt das Eis, als tränke ich jetzt den guten Wein oder als streichle der warme Sommerwind gerade über meine Schultern.
Dazu brauche ich nur ganz wenig. Ein Foto oder einen kleinen Gegenstand. Vielleicht haben Sie ja irgendwo solche Erinnerungsstücke liegen oder stehen. Nehmen Sie die kleine Vase, die Skulptur, die Sie auf dem orientalischen Markt ergattert haben oder den Stein, was auch immer, und fühlen Sie: Kommt sie, die Erinnerung? Riechen, schmecken, fühlen Sie etwas? Gibt es Ihnen Kraft und weckt es Lebens- und Reiselust? Weckt es Hoffnung in Ihnen?
Dann passiert etwas, was schon vor tausenden von Jahren den Menschen ganz selbstverständlich war. Sie erinnerten sich gemeinsam daran, wie sie aus einer turbulenten, lebensbedrohlichen Situation in eine entspannte, glückliche, freie geführt wurden. Sie schrieben diese wunderbaren Veränderungen Gott zu. Gott, der sie aus der Sklaverei in Ägypten durch die Wüste in das gelobte Land führte.
Erinnerungsfotos von dieser Befreiungstat hatte man damals nicht. Stattdessen feierte man gemeinsam ein Fest zum Gedenken.
Und damit die Erinnerung so lebendig wie möglich wird, gibt es bei diesem so genannten Passahmahl Mazzen statt gesäuertem Brot. Die Mazzen erinnern an den raschen Aufbruch aus Ägypten. Keine Zeit dafür, noch einen Sauerteig gehen zu lassen. Geriebener Meerrettich steht beim Fest auch auf dem Tisch und erinnert an die bittere Sklaverei, die der Freiheit gewichen ist.
Das Wort, das die alten Hebräer für unser Wort „sich erinnern“ benutzten, heißt „zachar“. Und das bedeutet mehr als nur „zurückdenken“. Es bedeutet, sich etwas lebendig vergegenwärtigen. Das Vergangene zu schmecken, zu fühlen – die Bitterkeit und dann die Befreiung daraus. Die Freude darüber heute lebendig werden zu lassen. Und daraus dann Hoffnung zu schöpfen, dass Gott mich auch jetzt noch aus Situationen, in denen ich unterdrückt und unfrei bin, befreien kann.
Und so nehme ich gerne ein Foto oder einen kleinen Erinnerungsschatz in die Hand. Denn sie verändern mein Leben heute. Einen schönen Sonntag mit wärmenden Erinnerungen wünsche ich Ihnen.