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Kirche in WDR 4 | 24.04.2019 | 08:55 Uhr
Barmherzig
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist“, sagt Jesus. (Lukas 6,36)
„Barmherzig“: Das Wort klingt wunderschön. Und irgendwie auch verdächtig. Wer möchte schon auf Barmherzigkeit angewiesen sein? Jemand sagte mir: „Wenn ich Barmherzigkeit höre, denke ich unwillkürlich an Klingelbeutel und Kollekte – oder an den Bettler in der Fußgängerzone mit seinem Plastikbecher.“ Barmherzigkeit hat für viele den Beigeschmack von Mitleid, das sich von oben herabbeugt und mehr kränkt als tröstet.
Ich denke an eine junge Frau, die ihre beiden Kinder – zwei und vier Jahre alt – allein erzieht. Manchmal erzählt sie mir davon, wie mitleidige Blick sie treffen. Wie man ihr Ratschläge erteilt und ungefragt Hilfe anbietet. Das ist alles gut gemeint, und doch trifft es sie empfindlich. Das Mitleid der anderen gibt ihr das Gefühl, bedauernswert dran zu sein. Solche Barmherzigkeit will sie nicht. Was sie braucht, sind Menschen, die ihre Situation nicht bewerten, sondern einfach da sind. Deren Herzenswärme sie spürt und deren Nähe ihr gut tut. Und auf die sie zählen kann, wenn´s drauf ankommt.
Von Herzen und verlässlich für andere da sein ohne zu fragen: „Was hab` ich davon?“ – das nennt die Bibel „Barmherzigkeit“. Liebe steckt darin. Treue. Und Güte. Barmherzigkeit öffnet das eigene Herz und alle Sinne. Sie sieht und hört und fühlt genau hin; und dann kann sie nicht anders: sie will tätig werden, Abhilfe schaffen, anpacken, verändern.
Erstaunlicherweise
ist Barmherzigkeit in der Bibel zunächst gar keine menschliche Tugend. Zuallererst
ist Gott selbst der Barmherzige. Und dann erst gilt seine Aufforderung an die
Menschen: „Seid barmherzig!“
In
der Not steht Gott zu mir, öffnet mir sein Herz, ist ansprechbar für meinen Jammer.
Wenn ich eingeschnürt bin in Angst und Schuld, führt Gott mich in die Weite.
Dankbar atme ich auf und werde barmherzig mit anderen.
Zur geheimnisvollen Wahrheit Gottes gehört allerdings auch, dass ich ihn bisweilen verwirrend anders erfahre: abwesend, hart, verborgen. Unnahbar fern. Unbegreiflich stumm.
Die
Rede vom „lieben“ Gott
geht eher auf Grimms Märchen zurück als auf die Bibel. Gott ist nicht stets
lieb und harmlos. Nicht von Beruf barmherzig.
Er
nennt Unrecht beim Namen. Er nennt böse, was böse ist. Und lässt Unrecht nicht
einfach auf sich beruhen.
Er
wird einmal zurückkommen auf mein Leben mit allem, was da war.
Und
gerade weil er mich ernstnimmt – auch mit all dem, was nicht gut an mir ist –
darf ich am Ende auf seine Barmherzigkeit hoffen.
Nicht
wegen meiner guten Taten, sondern trotz meines Unvermögens.
Das
glaube ich gewiss.
Reiner
Kunze bringt es in einem seiner Gedichte so zum Ausdruck:
Einer
– an gott zu glauben war ihm nicht
gegeben – steht
vor
gott,
und
gott, gewichtend
tat
und leben,
spricht:
Ich bin mit dir zufrieden (1)
Einen guten Tag wünscht Ihnen aus Bielefeld
Ihre
Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche
von Westfalen.
(1) Reiner Kunze aus: lindennacht, gedichte, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2007, S. 25.