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Sonntagskirche | 30.06.2019 | 08:55 Uhr

Erinnern

Guten Morgen.

Dieses Jahr feiert unser Grundgesetz den 70. Geburtstag.

Ich frage mich: Wie kommt es, dass 70 Jahre nach dem Entstehen des Grundgesetzes immer noch an der Würde des Menschen gerüttelt wird?

Wie kommt es, dass es noch so viele Ängste gibt vor allem, was fremd ist?Vielleicht, das denke ich oft, leben die schrecklichen Kriegserfahrungen
unserer Vorfahren ja in unserer Kultur noch weiter.

Ich glaube, wir tragen diese Geschichten heute noch in uns. Die Geschichten vom Sterben und Hungern. Von Bombennächten und Fliegeralarm. Und die Geschichten vom Wegschauen, wenn Menschen ausgegrenzt, abgewertet und verfolgt werden. Vom Schweigen, wenn die Nachbarn deportiert werden. Die Angst davor, sich einzumischen. Es sind die Geschichten unserer Mütter und Väter, unserer Großmütter und Großväter, unserer Urgroßmütter und Urgroßväter.

Es sind auch unsere Geschichten. Sie leben in unseren Familien, in unseren Städten, in unseren Kirchen weiter. Wenn wir vergessen uns zu erinnern, werden sie sich andere Wege suchen um weiterzuleben. So könnten immer wieder neue Ausgrenzungen entstehen. Die Geschichten brauchen Bekenntnis und Bearbeitung. Auch dann, wenn es schwer ist sie auszuhalten. Gedenkorte und Museen sind wichtig. Stolpersteine erzählen von Menschen, die ermordet und verfolgt wurden.

Wenn wir die Geschichten erinnern und erzählen – von den Menschen, die überlebt haben und von denen, die gerne wieder aufgestanden wären. Von denen, die nicht mehr da sind und Lücken hinterlassen haben, in unseren Familien und in unserer Gesellschaft – wenn wir diese Geschichten gemeinsam erinnern, dann lassen sie uns trauern.

Und sie lassen uns träumen, wie es sein könnte.

Eine Weisheit aus der jüdischen Mystik beschreibt das so:

„Das Vergessen-Wollen verlängert das Exil. Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Die Erfahrungen im Exil - Erfahrungen von schweren Zeiten, Bedrängnis und Angst. Ich kann sie nachlesen in der Tora und in der Bibel.

Und da steht: Gott ist da, wo Menschen in Schwierigkeiten und unter Bedrängnis leben müssen. Im Exil und auch danach: beim Neuanfang. Ein Gott, der hilft, mit schwierigen Erfahrungen umzugehen und im Gedenken an sie Neues zu bauen.

Das Erinnern löst mich heraus aus dem inneren Gefängnis der Kriegsgeschichten und ermöglicht mir eine Perspektive der Zukunft in Freiheit.

Das wäre doch was! Den Mut zu haben, die Erinnerung zu wandeln in ein Leben in Freiheit, wie es im Grundgesetz angedacht ist. Wo wir einander akzeptieren mit unseren Unterschieden. Und neue Möglichkeiten entdecken, wie Zusammenleben in Frieden gelingt.

Von der Erinnerung lernen für ein Leben, das neu wird. Langsam und vorsichtig und offen. Ein Leben, das Wege sucht, die alten Ängste loszulassen, die Generationen überdauert haben. Und das neue Möglichkeiten findet, mit Unterschiedlichkeit umzugehen.

Ein Leben, das akzeptiert, dass du anders bist als ich. Und ich anders als du.


Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag.

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