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Kirche in WDR 4 | 09.11.2019 | 08:55 Uhr
9. November
Guten Morgen,
9. November 1938. In Krefeld und in vielen anderen Städten in Deutschland bersten am Abend die Schaufenster jüdischer Geschäfte. Die Besitzer werden aus den Häusern getrieben, Möbel und Habseligkeiten von SA-Leuten aus den Fenstern der Häuser und Wohnungen jüdischer Mitbürger geworfen und auf Scheiterhaufen verbrannt. Die Schutzpolizei schaut zu und verhindert nur, dass sich die Brände ausbreiten. Nebendran werden die Martinsfeuer entzündet. Überall Glas auf der Straße. Die Martinszüge gehen darüber hinweg, als wenn nichts wäre. Beschreibungen der furchtbaren Ereignisse in der Reichspogromnacht. Sie bewegen mich jedes Jahr wieder am 9. November, wenn wir ihrer gedenken. Und ich finde sie beschämend. So hat es angefangen und es ging weiter. Kaum auszuhalten sind die Bilder, Fotos, Filmausschnitte aus KZs: Menschen werden nackt durch die Kälte in die Gaskammern, in den Tod getrieben. Was mich daran tief berührt: Viele gehen mit ihrem Credo auf den Lippen, dem Shema Jisrael, ihrem Glaubensbekenntnis. „Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ (5. Mose 5,4-5) Für jüdische Gläubige so wichtig und so weit verbreitet wie das Vater unser für die Christen. Das Gebet, das gläubige Juden mehrmals am Tag beten. Das dem alten Volk Israel beim Aufbruch ins verheißene neue Land mit auf den Weg gegeben wurde. Die Kinder lernen es. Man betet es beim Aufstehen und schlafen gehen. So wichtig ist es, dass es sogar um die Hand gebunden wird und als Merkzettel auf der Stirn zwischen den Augen angebracht. Schreibt es auf den Türpfosten, sagt Gott. Dieses Gebet gilt für das ganze Leben.
Selbst inmitten tiefster Demütigung durch die Nazischergen, selbst auf dem Weg in den Tod halten sich die Menschen jüdischen Glaubens daran fest: Es gibt nur einen, der das Sagen hat in dieser Welt: unseren Gott. Er hat uns in die Welt gesetzt und uns unsere Würde als seine Geschöpfe verliehen. Niemand kann uns diese Würde nehmen. Keine Macht der Welt kann sich anmaßen, über ihm zu stehen.
Auch für Jesus mit seiner jüdischen Herkunft ist dieses Bekenntnis zu dem einzigen Gott das höchste Gebot. Es gehört damit auch zum christlichen Bekenntnisschatz. Jesus nennt es in einem Atemzug mit dem Gebot, seinen Nächsten zu lieben. (Markus 12,29-31) Wer das glaubt: Gott allein hat Macht über die Menschen, und kein Mensch über einen anderen, der wird von ganz alleine respektvoll mit seinen Mitmenschen umgehen. Der wird auf seine Worte achten. Dem kommen Schimpfworte wie „Du Jude“ nicht über die Lippen. Der wird nicht mitmachen, wenn Menschen diskriminiert werden. Schon gar nicht, wenn rassistische Parolen verbreitet werden oder Menschen angepöbelt werden wegen ihres Glaubens. Wie frei macht uns das Bekenntnis zu Gott als dem einzigen, der Macht hat in dieser Welt.
Ihre Pfarrerin Barbara Schwahn aus Meerbusch.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze