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Sonntagskirche | 01.12.2019 | 08:55 Uhr
Was mich beflügelt
Guten Morgen,
während es in unseren Breitengraden kälter wird
und heute der Advent beginnt,
winke ich den letzten Zugvögeln hinterher,
wünsche ihnen eine gute Reise in die Wärme.
Besonders fasziniert hatten mich zuletzt die
Gänse,
wie sie ein großes V an den Himmel malen.
Vorneweg die
Führungsgans,
in ihrem
Windschatten die anderen,
die wiederum die
vorderen Gänse durch Zurufe ermuntern.
Wird die vorderste
Gans müde, löst eine andere Gans sie ab.
Wird eine Gans mal
krank, begleiten zwei Gänse sie zu Boden.
Diese bleiben so
lange an ihrer Seite,
bis die Gans
wieder fliegen kann oder aber stirbt.
Dann schließen
sich die Gänse
einer anderen
Formation an.
Wenn ich an die Zugvögel denke,
frage ich mich gegen Ende dieses Jahres:
In welcher Gemeinschaft war ich unterwegs?
Wem an die Seite gestellt?
Weiter vorne, in der Mitte, eher hinten?
Wo war mein Platz?
Und wo wird er sein?
Zurückgelassen haben die Zugvögel ein paar ihrer
Federn.
Ich finde sie auf meinen Spaziergängen durch die
Natur,
hebe sie vorsichtig auf,
leicht
sind sie in meiner Hand, wiegen fast nichts.
Zusammen mit den
anderen aber
bekommen sie
Gewicht,
entfalten sie ihre
Kraft.
Gemeinsam geben sie
dem Vogel eine Form,
schützen ihn vor
Wasser und Kälte,
bringen ihn zum
Fliegen,
hüllen ihn in ein
Kleid.
Manche Vögel
tragen ihre Federn im Sommer bunt und im Winter schlicht;
das Brutkleid zum
Auffallen, das Ruhekleid zum Schutz.
Welches Kleid gibt
mir in diesen Tagen Schutz?
Was hält mich
warm?
Wo komme ich zur
Ruhe?
Ich nehme die
Federn mit nach Hause,
lege sie behutsam auf
meinen Tisch, betrachte sie,
eine nach der
anderen: keine wie die andere!
Und ich frage
mich, wo sie wohl schon überall waren,
am Himmel und auf
der Erde!
Welchen Vogel sie
beflügelt haben?
Und welche
Geschichten sie geschrieben haben?
Sie und die Ihren!
In
unzähligen Händen haben Federn einst gelegen,
Gedanken mit
Tinte zu Papier gebracht,
Gesetze
festgehalten, Dokumente unterzeichnet,
Tagebücher
gefüllt, in Briefen die Liebe erklärt
und um
Verzeihung gebeten, Lieder komponiert
und in
Karten die Welt abgebildet.
Während ich meinen
Stift auf ein weißes Blatt Papier setze
und versuche die Konturen
der Federn nachzuzeichnen,
ihre Linien weiter
zu führen,
entstehen Muster
in meinem Kopf,
wie eine
Landkarte, ein Weg tut sich auf,
am Ende dieses
Jahres,
am Anfang dieses
Monats,
eine Fährte…
… und ein Lied kommt mir dabei in den Sinn,
von Hans Graf von
Lehndorff,
einem
Kirchenlieddichter, Schriftsteller und Chirurgen,
ein Lied wie eine Adventsbitte:
„Komm in unser festes Haus,
der du nackt und ungeborgen.
Mach ein leichtes Zelt daraus,
das uns deckt kaum bis zum Morgen.
Denn wer sicher wohnt, vergisst,
dass er auf dem Weg noch ist.“
Vielleicht schicke
ich heute jemandem diese Liedstrophe
und lege eine
meiner Federn dazu.
Ach und vielleicht
schreibe ich morgen noch einen Brief,
jemand anderem,
und übermorgen wieder einen…
… 24 Mal - bis dann endlich Weihnachten ist.
Es ist Advent –
kommen Sie mit?
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
© Text: In Anlehnung an Stephanie Brall et al, Leben lieben: Kreative Inspiration für Feiertage, Allerweltstage und Lieblingstage. bene! Verlag. 2019. S. 166-169. ISBN 978-3-96340-049-0