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Kirche in WDR 4 | 30.04.2020 | 08:55 Uhr
Haarige Zeiten
Heute ist der internationale Tag der Frisuren. Und Sie können gar nicht glauben, wie sehr ich mich darauf freue, endlich mal wieder zum Friseur zu gehen. Nächste Woche soll das ja wieder möglich sein, wenn die Einschränkungen wegen Corona- weiter gelockert werden. Ja – es sind in vielerlei Hinsicht „haarige Zeiten“.
Und so ist dieser Welttag der Frisuren sicherlich ein besonderer. Dass allenthalben die Haare gerade wachsen, erinnert mich als Theologen an eine außergewöhnliche Lebensform. Ich meine nicht die Hippies vor 40 Jahren. Gehen Sie mal über 2.000 Jahre zurück. Dann sind wir bei den sogenannten Nasiräer in der Bibel.
Was hat es mit denen auf sich hat? Der Begriff Nasiräer heißt übersetzt so viel wie „die Ausgesonderten“. Und das bezog sich auf Männer, die sich freiwillig für eine bestimmte Zeit in so eine Art Super-Fasten begeben haben: kein Alkohol, keine Rauschmittel, kein Kontakt zu allem, was unrein ist, vor allem kein Kontakt zu Toten und: Nicht die Haare und den Bart schneiden. Und daher waren die Nasiräer ziemlich gut in der ansonsten fein frisierten Gesellschaft zu erkennen. Wenn bei einem Mann die Frisur wuchs und wuchs, war schnell klar: Ah, ein Nasiräer. Und warum das Ganze? Um mit sich und Gott ins Reine zu kommen.
Wie gesagt: diese Männer hatten das meist auf Zeit gemacht, von zwischen 30 und 100 Tagen ist da die Rede[1]. Da lägen wir Deutschen aber mit unserem unfreiwilligen Nasiräertum von knapp 50 Tagen seit Corona also noch unter dem Durchschnitt. Laut der Bibel gab es sogar Männer, die sich ein Leben lang darauf verpflichtet hatten. Der berühmteste von allen ist wohl Samson, besser Simson. Ähnlich wie Obelix, der als Kind in den Zaubertrank fiel, wurden Simson übermenschliche Kräfte nachgesagt. Bei ihm lag das nicht am Zaubertrank, sondern an dem langen Haar, das von Kindheit an wuchs. Und als ihm seine Frau Delila auf die Schliche kam und ihm die Harre kurzerhand abschnitt, war es vorbei mit der Superkraft.
Gut: Die Verbindung von langen Haaren und Superkraft g ehört zu den Märchen aus der Bibel. Und mir liegt es fern, die letzten 50 Tage als Zeit zu deuten, um mit Gott und sich selbst ins Reine zu kommen. Wir haben nicht freiwillig wie die Nasiräer entschieden, dass unsere Frisuren aus dem Leim gehen. Und das Ganze dieser Pandemie als Prüfung zu deuten, um Gott etwas zu beweisen, finde ich, ist ebenso zynisch wie theologischer Quatsch.
Ich denke an die, für die die letzten Wochen eine härtere Prüfung war, als nur auf die Frisur zu verzichten. Ich denke an die, die auf persönliche Kontakte und Zuwendung verzichten mussten. Ich denke an die, die ihren Job verloren haben und Angst vor der Zukunft haben. Die letzten anderthalb Monate haben unsere Gesellschaft geprägt. Und wahrscheinlich wird es auch noch länger dauern, bis wir insgesamt zur Normalität zurückkehren. Das renkt sich nicht ein mit dem ersten Friseurbesuch.
Aber: Ich würde schon behaupten, dass wir in den letzten Wochen noch mal neu gelernt haben, aufeinander Acht zu geben. Solidarität – das ist das große Wort –die ist bei uns gewachsen. Und ich hoffe sehr, dass Solidarität kein Zopf ist, den wir abschneiden, sobald die Krise vorbei ist. Denn: Solidarisch-Sein gehört zu den Superkräften unserer Gesellschaft.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Nasir%C3%A4er