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Kirche in WDR 4 | 07.05.2020 | 08:55 Uhr
Gerechtigkeit und Gnade
Guten Morgen!
In meiner Schulzeit hatte ich einen Erdkundelehrer. Bis heute ist er mir in Erinnerung geblieben. Zwei Doktortitel hat er. Zumindest wurde das immer behauptet.
Heute Morgen musste ich wieder an ihn denken.
Jeden Morgen lese ich die Tageslosung – das ist ein Vers aus der Bibel, der für jeden Tag ausgelost wird. Heute ist es ein Vers aus dem Buch des Propheten Nehemia, der zu Gott sagt: „Aber du bist ein Gott, der vergibt, gnädig und barmherzig, geduldig [bist du] und von großer Güte.“ (Nehemia 9,17, Luther 2017)
Nehemia erinnert mich in diesem Text daran, welche Eigenschaften Gott hat: Er vergibt, ist gnädig, geduldig, gütig, barmherzig.
Und hier komme ich zurück zu meinem Erdkundelehrer.
Wirklich beliebt ist er in meiner Klasse nie gewesen. Zu Beginn jeder Stunde kontrolliert er die Hausaufgaben. Scheinbar willkürlich ruft er Namen von der Klassenliste auf. Jede und jeder weiß, was blüht, wenn der eigene Name genannt wird. Natürlich habe auch ich nicht immer meine Hausaufgaben ordentlich gemacht. Die plumpe Ausrede ist dann meist: „Die Hausaufgaben habe ich vergessen.“ Mit einem leichten Lächeln im Gesicht entschuldigt sich der Lehrer dann stets und trägt eine 6 in sein Notenbuch ein; gefolgt von der immer gleichen Frage: „Gerechtigkeit oder Gnade, worauf hast du Anspruch?“ Mit mehr oder weniger geknickter Stimme antwortet der Erwischte dann: „Gerechtigkeit“. Klar, es wäre ja ungerecht den anderen gegenüber, wenn ich trotz fehlender Hausaufgaben mit einem blauen Auge davonkäme.
Im Innern haben wir sicher alle gedacht: Gnade oder zumindest Verständnis könnte ja auch nicht schaden. Diese Angstmache ist einfach schrecklich. Hausaufgaben vergessen? Setzen. 6.
Ich glaube, dass dieses Prozedere zu Beginn jeder Erdkundestunde der Grund ist, warum ich mich bis heute so gut an diesen Lehrer erinnere. Klimadiagramme, Plattentektonik oder Bevölkerungsentwicklung - davon ist nicht viel hängengeblieben. „Gerechtigkeit oder Gnade?“, die Frage ist mir bis heute präsent.
Der Prophet Nehemia erinnert mich genau an diese Frage.
Gerechtigkeit ist ihm wichtig. Wo immer sie fehlt und es ungerecht zugeht, stimmt etwas nicht.
Deutschland ist ein Rechtsstaat. Da ist mir Gerechtigkeit im Großen zugesichert. Ich kann sie einklagen. Im Kleinen weiß ich, dass viele Sinn für Gerechtigkeit haben: meine Eltern, Freunde, mein Partner und viele andere Mitmenschen.
Gnade ist etwas anderes. Sie ist bedingungslos. Auf Gnade habe ich keinen Anspruch. Ich kann sie nicht einklagen.
Gott ist barmherzig, geduldig, von großer Güte und gnädig. Heißt es beim Propheten Nehemia in der Bibel. Er gibt bedingungslos. Ich muss mir die Gnade Gottes nicht verdienen. Durch Gehorsam oder Pflichtbewusstsein zum Beispiel. Bei Gott heißt es nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Er nimmt mich an, wie ich bin und ist immer für mich da.
Ob ich bei Gott für die nicht erledigten Aufgaben auch eine 6 bekommen hätte? Die Frage hat mein Erdkundelehrer offengelassen.
Einen wohlwollenden und gütigen Blick auf sich selbst und die anderen wünscht Ihnen,
Ihr Pfarrer Oliver Mahn aus Köln
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze