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Kirche in WDR 4 | 17.09.2020 | 08:55 Uhr
Ein ganzes Dorf
Es heißt ja: Es braucht ein
ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. In den letzten Jahren habe ich gelernt,
dass das auch für das Lebensende gelten kann. Mein Vater ist seit einigen
Jahren an Demenz erkrankt.
Sehr langsam schreitet die Krankheit voran. Sehr langsam verabschieden sich
Fähigkeiten und Erinnerungen.
Immer wieder werden wir, seine Kinder, gefragt: „Wie geht denn das, dass er noch alleine lebt?“ Manchmal steckt hinter dieser Frage wirkliches Interesse. Doch sehr häufig steckt in dieser Frage ein Vorwurf, eine womöglich gut gemeinte Mahnung: Ist das noch zu verantworten?
Ich verstehe das. Ich hätte
früher auch nicht geglaubt, dass das geht.
Ich hätte auch gedacht, wer an manchen Tagen auf seine Ehefrau wartet, die
schon vor Jahren gestorben ist, der kann doch nicht mehr alleine klar kommen.
Von meinem Vater lerne ich, dass das sehr wohl geht.
„Solange keine Selbst- oder
Fremdgefährdung vorliegt, kann er alleine leben.“ Diese Botschaft des
Fachmanns, bei dem wir uns Beratung geholt haben, ließ bei meiner Schwester und
mir Steine plumpsen.
Denn unser Vater liebt es zuhause zu sein. Vor sich hin pröddeln zu können, in seinem Garten nach dem Rechten zu sehen und seine Einkäufe selbst zu erledigen. Jeder Tag, an dem ihm das noch möglich ist, freut uns.
Andere runzeln die Stirn
darüber. Sie sehen, was alles nicht mehr funktioniert. Machen sich Sorgen.
Halten es für besser, einen Menschen, der sich so verhält, besser in eine
professionelle Vollzeitbetreuung zu geben. Schon mal vorsorglich. Denn wer
weiß, was
morgen ist?
Wir wissen nicht, was morgen
ist. Aber wir wissen, dass es ihm heute gut geht. Auch durch das Dorf drum herum,
das eigentlich ein kleiner Stadtteil ist. Das sind die Menschen vom
Pflegedienst, die ihn unterstützen, damit er die richtigen Tabletten zur
richtigen Zeit nimmt. Das sind die Nachbarn, die ihm helfen, wenn die
Fernbedienung mal wieder nicht so will wie er. Und die unfassbar nette
Belegschaft seiner Stammmetzgerei und -bäckerei, die trotz
Wortfindungsstörungen einpacken, was er gerne isst. Und all die anderen, die
meinen Vater vom Sehen kennen und ihn nicht anraunzen, wenn er mal wieder keine
Maske mitgenommen hat in den Supermarkt. Für sie ist es normal, dass er anders
ist. Das darf sein.
Er darf sein.
Ohne dieses Dorf ginge es nicht. Ohne Menschen, die tolerant genug sind, auszuhalten, was an ihm anders ist, ginge es nicht.
Ich habe gelesen, in Japan gibt es neuerdings Supermärkte mit Kassen nur für Senioren. Dort dürfen sie sich ordentlich Zeit lassen beim Aufladen und Einpacken. Keiner hetzt sie.
Eine tolle Idee, dachte ich. Das einzige, was noch toller wäre: Wenn diese alten Menschen an jeder beliebigen Kasse einkaufen könnten, ohne gehetzt zu werden.
Es braucht ein ganzes Dorf,
um auch alt und krank dazuzugehören.
Ich wünsche mir, dass ich das nie vergesse. Auch dann nicht, wenn ich es eilig
habe, während vor mir an der Kasse mal wieder jemand sehr lange nach Kleingeld
sucht.