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Kirche in WDR 4 | 01.01.2022 | 08:55 Uhr
Die leise Stimme der Neujahrsnacht
Einen guten Neujahrsmorgen!
Um Mitternacht haben – wie in jedem Jahr - die Glocken geläutet. Die Freunde treten ans Fenster und schauen in die Nacht. „Prost Neujahr!“ ruft eine Stimme von der Straße herauf, und die am Fenster stehen, geben Antwort: „Prost Neujahr!“ Sie sind eine kleine Gesellschaft. Irgendwo in einem Ort auf dem Land haben sie sich in der Wohnung eines Freundes zusammengefunden. Kurz vor Mitternacht schießt der Korken aus der Flasche, alle stoßen an und begrüßen das neue Jahr. Sie sind fröhlich – und wissen eigentlich gar nicht, warum. Aber das ist so: Silvester ist man fröhlich und laut und lärmend.
In diesem Jahr ist
es allerdings anders. Kein Feuerwerk, keine Knallfrösche. Böllerverbot. So wie
auch schon im Jahr zuvor. Koch ist das ganz recht so. Die ungewohnte Stille hat
etwas Beruhigendes. Und es gilt in Pandemiezeiten, die überlasteten Krankenhäuser
vor zusätzlicher Inanspruchnahme durch Verletzte zu schützen. Gegen zwei Uhr
gibt es Kaffee, der sie auffrischen oder nüchtern machen soll, je nach Zustand.
Dann, um halb drei sind alle müde und beschließen, die Feier zu beenden.
Gähnend stehen sie auf. „Entschuldigung“, sagen sie zu dem Freund, „es war
herrlich bei dir – aber jetzt sind wir bettreif.“
Koch hat den weitesten Weg, er wohnt im Nachbarort und muss durch den Wald und
über den Berg gehen. Er fühlt sich wohl, als er draußen in der frischen Luft
ist und allein. Als er losgeht, sieht er vor sich den Berg. Der Berg liegt
zwischen ihm und dem neuen Tag. Über ihm blinken die Sterne, und er denkt
daran, dass ebenso wie die Sterne im Weltenraum ihre Bahn ziehen, nicht anders
die Erde ihre Bahn zieht. Jetzt, so scheint es ihm, dreht sie sich dem neuen
Jahr entgegen. Dort, hinter dem Berg, steigt nun das neue Jahr herauf. Wenn
über Koch der Große Wagen fast senkrecht steht, ist es da: Das Sternbild wird
verblassen, die Dämmerung beginnen, und dann ist es Tag. Langsam wandert Koch
die Landstraße dahin. Jetzt beginnt der Wald. Er hört einen Hahn krähen und das
Gebell eines Hundes. Dann ist es wieder still und er hört nur den Hall seiner
Schritte. Fünfhundert Kilometer, denkt er, so hoch soll die Lufthülle der Erde
sein. Dahinter beginnt schon der unendliche Raum. Und wir fahren in ihm. Die
Erde. Wir. Plötzlich hört er eine leise Musik, wie eine zart gezupfte Gitarre.
Oder wie eine schüchtern flüsternde Stimme, die etwas zu sagen hat, aber nicht viel
Aufhebens davon machen möchte. Schließlich ist ihm klar: Es ist der Bach, der
vom Berg herab neben der Landstraße entlangfließt. Koch geht der Musik nach,
tritt an den Straßenrand und hört zu. Er sieht nichts als Dunkelheit, und über
ihm ist allein das Licht der Sterne. Es tut Koch gut, nach dem Sekt und all der
überspitzten Fröhlichkeit des gestrigen Abends nun diese leise Stimme zu hören.
Und zuzuhören, was sie zu sagen hat. Und wenn vorhin, unter den Freunden, einer
gefragt hätte: Was mag wohl dieses Jahr uns bringen? – dann weiß er jetzt die
Antwort: das Leben. Worüber hatte die Pfarrerin gestern im
Silvestergottesdienst gepredigt: „Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir,
Gott, ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.“ (Psalm 11,16)
Als Koch weitergeht,
fühlt er bewusst seinen festen Schritt. Gleichmäßig atmet er tief ein und aus –
und ihm ist froh zumute, während er den Berg gelassen hinaufsteigt.
Gute erste Schritte ins neue Jahr wünsche ich Ihnen!
Ihr Pfarrer Michael Opitz aus Düsseldorf.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze