Sanftmut

Guten Morgen!

Ich fange am Ende an, bei der letzten Begegnung mit Rolf (1). Er war Romancier, Journalist, katholischer Theologe, Fotograf, Menschenfreund. An jenem Tag lag er bereits, konnte nicht mehr gut sprechen, und der Tod saß ungeniert mit am Bett. In solch einer Situation ist man ziemlich unsicher. Bloß keine frommen Sprüche, klar. Rolf hilft, übernimmt sacht die Regie. Er will uns etwas zeigen, dirigiert uns durchs Zimmer. Da hinten im Regal, da muss es sein, das Buch mit Fotos von Michelangelos Gemälde vom Weltgericht. Wir schauen es uns an. Rolf legt den Finger ganz oben auf Christus. Der steht über dem grausamen Getümmel. Guckt euch das an!, sagt Rolf. Der wendet sich ab! Den widert das an, wie da in die Hölle geworfen wird. Das ist Rolfs Interpretation. Sie hat mich überzeugt.

Ein Künstler der Perspektive, das war er nämlich, und deshalb ein meisterhafter Fotograf. Was hat er nicht alles gesehen und mit seiner Kamera eingefangen. In sechzig Ländern mindestens war Rolf unterwegs, oft für kirchliche Hilfswerke. An Orten voller Gewalt, Elend und Tod tauchte er in das Leben der Entrechteten und Geknechteten ein. Das war mutig; die Situationen oft brenzlig. Ein Brotjob war das nicht gerade, aber eben seine Passion, seine Leidenschaft.

Wenn man Rolfs Fotos anschaut, verwandelt man sich vom Sehenden zum Gesehenen. Man fühlt sich angeschaut, durchschaut. „Wie hat er das geschafft?“, habe ich mich immer wieder gefragt. Rolf war stabil und kantig. Ein richtiger Bär. Aber ihm ging alles Grobe, Kraftmeierische ab – auch wenn er deftig formulieren konnte. Und wie unverstellt wie ein Kind und ohne Falsch er erzählen konnte, mit kräftiger und doch sanfter Stimme. Kein Wunder, dass die fremden Menschen Angst, Scheu, Scham und Misstrauen verloren und stolz waren sich zu zeigen. Die dreckverschmierten jungen Kerle in den kolumbianischen Smaragdminen zum Beispiel: wie sie ungeniert ihre Faxen machen. Oder das Mädchen auf der rumänischen Müllkippe: wie sie triumphierend die Puppe hinhält, die sie gerade gefunden hat. Was für eine Offenbarung, diese Gleichzeitigkeit von Elend und Lebensfreude.

Rolf hat sich darüber geärgert, wenn man von jemandem sagt: „Er gibt den Menschen ihre Würde zurück.“ Das fand er vermessen. „Wer bin ich, dass ich Würde geben oder nehmen könnte“, sagte er. „Ich gebe den Menschen ihre Würde nicht, ich mache sie höchstens sichtbar.“ Und das hat er in der Tat geschafft.

Ein Freund von Rolf verrät, wie: durch die Fähigkeit sich selbst zurückzunehmen und sich in gewisser Weise unsichtbar zu machen.

Rolf war in der ganzen Welt unterwegs, ausgestattet mit seiner Kamera, mit seiner Sanftheit und seinem Mut. Mit dieser Sanftmut hat er in viele Höllen geschaut.

Als er kurz vor seiner letzten Reise das Bild vom Weltgericht aus der Hand legte, meinte er grinsend: „Naja, ich werde es ja bald selbst sehen“.

Jesus sagt: Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.

(1) Ich erzähle von Rolf Bauerdick. Seine Homepage existiert noch: http://rolfbauerdick.de

Einen gesegneten Tag wünscht Ihnen Pfarrerin Silke Niemeyer aus Münster.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze