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Kirche in WDR 4 | 11.03.2022 | 08:55 Uhr

Barmherzig

Guten Morgen!

Als Kind gehört er zu denen, die mit einem zugeklebten Brillenglas rumlaufen müssen. Mit der Methode will man das widerspenstige Auge dahinter zur Räson bringen, das immer die falsche Blickrichtung einschlagen will. Sieht doof aus. Aber besser eine Zeitlang mit zugeklebter Brille rumlaufen, als ein Leben lang schielen. Schön ist das trotzdem nicht. Schön ist für Thomas auch nicht, dass seine Schwester nur ein Jahr nach ihm zur Welt kommt und ihm ganz gehörig die Schau stiehlt: endlich ein Mädchen nach zwei Jungs.


Schön ist für Thomas aber, wenn der Großvater ihn auf den Schoß nimmt. Und das tut er oft und sagt: „Mein Augentrost!“ Das hat er Thomas so oft und mit heiterem Ernst gesagt, dass der es ihm geglaubt hat und dann wirklich ein solcher geworden ist: Ein Augentrost für die, die mit ihm zu tun haben.

Ich erinnere mich gut: Einmal, da sitzen wir in einer Runde, und eine von uns ist gerade sehr traurig. „Ich möchte, dass der Thomas mich anschaut, der hat so einen Blick, bei dem bin ich gleich getröstet“, schluchzt sie. Es hat geholfen.

Heute fällt das widerspenstige Auge nur noch in eine Ecke, wenn Thomas richtig zornig ist, also höchst selten. In Rage bringen ihn: Rüpel im Straßenverkehr – vielleicht, weil er als Notfallseelsorger zu oft Todesnachrichten überbringen muss. Und ihn ärgern Köche, die ihm mieses Essen vorsetzen – vielleicht, weil er so gern schlemmt. Eine seiner Devisen lautet jedenfalls: Man kann sich den ganzen Tag ärgern, aber man hat nicht die Pflicht dazu.


Mit ihm ist das so:

Alle sind wir uns einig, dass eine Person eine Nervensäge ist, hysterisch, egozentrisch, verrückt, anstrengend, nicht gut genießbar. Thomas spricht auch von ihr, aber es klingt ganz anders. Er erzählt, was für kreative Gaben sie hat, wie wunderbar sie sich in andere einfühlen kann und mitleiden. Ja gut, sie ist manchmal etwas kompliziert, aber das bewundert er an ihr. So ist das immer. Das ist bei ihm einfach eingefleischt: Dieser Blick auf den anderen, der über alle Hässlichkeiten und Schäbigkeiten hinwegschaut. Diese Unfähigkeit schlecht über Mitmenschen zu sprechen – nicht, weil er das unmoralisch fände, nein, sondern weil er so unverwüstlich das Gute in ihnen sieht. Und er entdeckt immer, aber auch immer etwas. Diese Unlust sich an Fehlern und Schwächen anderer zu ergötzen. „Wenn Thomas dabei ist, kann man sicher sein, dass über keinen schlecht geredet wird“, sagt einer, und er hat Recht.


Für Thomas sind die Menschen nicht einfach so oder so. Er möchte verstehen, wie sie geworden sind. Darum fragt er sie und lässt sie lang und breit erzählen. Und er hört zu mit diesem Augentrostblick, unter dem man weiß: Hier wird nichts beurteilt, verpackt und in Schubladen gelegt. Hier wird einfach nur gehört und gesehen.


Ich gebe zu, diese bedingungslose Barmherzigkeit meines Freundes geht mir manchmal auf den Wecker. „Du entschuldigst zu viel. Nun lass dir doch nicht alles gefallen“, sage ich ihm dann. „Du musst doch auch mal sagen: Schluss jetzt!“, schimpfe ich mit ihm.

Sinnlos. Immer hat er noch ein Argument, das für den anderen spricht und dafür, es noch mal zu versuchen.


Jesus sagt: Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.



Einen gesegneten Tag wünscht Ihnen Pfarrerin Silke Niemeyer aus Münster.




Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

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