Nicht locker lassen

Guten Morgen!

Es gibt immer wieder Momente, in denen ich mich wundere, was für eine junge, frische, mädchenhafte Stimme sie mit ihren sechsundsechzig Jahren hat. Da ist keine Härte drin. Auch wenn sie unermüdlich Härten und Ungerechtigkeiten beim Namen nennt. „Das dürfen wir nicht hinnehmen“, sagt Marion ganz oft. „Das geht doch nicht. Das ist Unrecht.“ Mit dieser Stimme liegt sie Politikern so lange in den Ohren, dass die schon mal die Augen verdrehen. Mit dieser Stimme hält sie Vorträge, spricht über die Ungerechtigkeiten des Rechts. Und: Mit ihrer Stimme spricht sie für die, die selbst kaum Stimme haben – für Menschen, die um ihr Bleiberecht kämpfen.

Marion hat darüber geforscht, wie Frauen nach ihrer Flucht ihr Leben neu erfinden. Eine hat mal gesagt: "Aufgeben nur Pakete und Briefe, nicht und nie mich." Diesen Satz hat Marion zum Untertitel ihrer Doktorarbeit gemacht. Für sie selbst passt das auch ganz gut: Aufgeben? Nicht und nie.

Jahrelang hat sie Flüchtlinge dabei unterstützt, Arbeit zu finden. Selbst meist auf einer dieser miesen Arbeitsstellen, die hinten und vorn nicht ausreichen: Teilzeit und befristet. Marion hat mehr als 100 Prozent gearbeitet. Unverdrossen schreibt Marion spätabends Anträge, fährt nach Berlin ins Ministerium, um wieder was rauszuverhandeln mit ihrer frischen jungen Stimme – und mit Erfolg!

Ihr Büro ist schäbig. Und wenn sie Sprechstunde hat, muss sie sich den Weg dahin bahnen.

Die Geflüchteten sitzen vor der Tür, sie sitzen auf der Treppe. Einige sprechen sie bereits unterwegs an. Die meisten sind junge Männer, einige Frauen sind auch dabei. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, Ägypten. Sie wollen von „Doktor Marion“ Rat für alle möglichen Fragen, nicht nur für die beruflichen. Es hängt ja auch alles mit allem zusammen. Wie soll man denn für seine Ausbildung lernen, wenn man keinen Tisch hat, an dem man schreiben kann. Oder wenn man fast verrückt ist vor Angst, weil die Familie noch in Afghanistan ist. Oder, oder, oder ...

Und Marion macht, hakt nach, sucht nach Möglichkeiten, knüpft Netzwerke. Aber wer meint, er könne sie veräppeln, den schickt sie zurück auf Los. Ganz klar.

Kann die Frau denn auch mal lockerlassen? Nein, kann sie nicht. Bis heute nicht, auch wenn sie schon länger im Ruhestand ist. Was täten wir ohne solche wie sie. Wir brauchen sie. Menschen müssen immer wieder aus verschiedenen Gründen flüchten. Gerade jetzt erwarten wir viele aus der Ukraine, die vor dem Krieg fliehen.

Du machst doch Radiosendungen, sagte sie neulich. Da musst du un-be-dingt (!) erzählen, was die Menschen erleiden, wenn sie in der ZUE sind. ZUE? Ja, Zentrale Unterbringungseinrichtung. Da haben die monatelange Lagerunterbringung, kein Zutritt von Besuchern ohne Erlaubnis, die Taschen werden jedes Mal kontrolliert, wenn man reinkommt, man darf nicht arbeiten, die Kinder dürfen nicht zur Schule gehen, es gibt fast keine Möglichkeit die Sprache zu lernen, die Versorgung läuft nur über Sachleistungen. Und das bei Corona. Manche sind zwei Jahre da. Die gehen da kaputt. Und niemand spricht drüber. Du musst davon reden.

Ja, Marion, mach ich.

Jesus sagt: Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze