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Sonntagskirche | 17.11.2024 | 08:55 Uhr
Julio Goslar
Guten Morgen.
Heute ist Volkstrauertag. Ein staatlicher Gedenktag.
Sprecher oder O-Ton: „Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.“ (1)
Das sagte 2016 der damalige Bundespräsident Joachim Gauck bei der Gedenkstunde im Bundestag.
Nicht nur der gefallenen Soldaten,
aller Opfer von Krieg, Terror und Gewaltherrschaft wird hier gedacht.
Deswegen möchte ich Ihnen heute von Julio Goslar erzählen. Nach ihm ist das Gemeindehaus der Lutherkirche in Köln-Nippes benannt, an der ich Pfarrerin bin. Julio Goslar war lange Kirchenmusiker in unserer Gemeinde. Geboren wird er 1883 in einem jüdischen Elternhaus in Siegen. Sein Abitur macht er in Köln. 1914 lässt er sich evangelisch taufen. Dann wird er im Ersten Weltkrieg als Soldat eingezogen. 1921 kommt er als Organist und Chorleiter in die evangelische Gemeinde in Nippes. Mit seiner Frau Christel und dem kleinen Sohn bezieht er eine Wohnung in eben dem Haus, das heute seinen Namen trägt. Außerdem arbeitet er als Orchester- und Chorleiter, Konzertpianist, Musikwissenschaftler und Komponist.
Dann kommen die Nazis an die Macht. Obwohl er evangelisch getauft ist, gilt er im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie als jüdisch. Weil er jüdische Eltern hat. Julio Goslar und seine Familie werden deshalb zunehmend angefeindet und verleumdet. 1936 wird Julio Goslar aus seinem Amt gedrängt und muss nun Zwangsarbeit leisten. Die Gemeinde hilft ihm nicht.
1944 flieht er mit seiner Frau – ihr Sohn ist inzwischen als Soldat eingezogen worden – und taucht mithilfe von Freund:innen unter. Versteckt in verschiedenen Wohnungen überleben sie bis zum Kriegsende.
Die evangelische Kirchengemeinde hat weder die Hetzkampagnen gegen Julio Goslar noch den Verlust seines Amtes verhindert. Im Gegenteil, die Gemeindeleitung hat daran mitgewirkt. Selbst nach Kriegsende hat sie sich zunächst geweigert, ihn wiedereinzustellen. Erst auf Druck der alliierten Militärregierung bekommt Julio Goslar seine Stelle als Kirchenmusiker wieder.
Er ist einer der Wiederbegründer der Kölner SPD nach dem Krieg, leitet viele Chöre und tritt immer wieder musikalisch auf. Einige Jahre vor seinem Tod erhält er dafür das Bundesverdienstkreuz.
Mich beschämt, wie die Kirchengemeinde mit Julio Goslar während der nationalsozialistischen Verfolgung umgegangen ist. Zum Glück unterstützen die Gemeindeleitenden in den 1980er Jahren, dass die Geschehnisse aufgearbeitet wurden. Am Ende bekam das Gemeindehaus den Namen seines ehemaligen Bewohners: Julio Goslar.
Wenn wir an ihn erinnern, dann erinnern wir auch uns selber daran: Es ist wichtig, einzuschreiten, wenn Menschen diskriminiert, ausgeschlossen oder verfolgt werden. Und wir geben uns selbst das Versprechen: Wir wollen wachsam sein und für die Würde jedes Menschen einstehen. Unbedingt.
Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Volkstrauertag.
Quellen:
(1) Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. (Hrsg.): Frieden, Vertrauen und Versöhnung. Reden zum Volkstrauertag 2016. Kassel 2017, S. 39–40.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze