Beiträge auf: wdr4
Kirche in WDR 4 | 14.05.2025 | 08:55 Uhr
Die Wanderschuhe
Guten Morgen.
Wir sind im Wald unterwegs. Ein paar Stunden sind wir schon gelaufen. Gleich werden hoffentlich die ersten Häuser auftauchen.
In einer Ausbuchtung des Weges sehen wir eine Bank. Darauf stehen ein Paar Wanderschuhe mit dicker Sohle und Schnüren, ordentlich nebeneinander. Wir schauen umher. Wer zieht denn seine Wanderschuhe aus und geht den steinigen Weg barfuß weiter? Wer lässt seine Schuhe einfach zurück? Keiner zu sehen. Komisch.
Wir nehmen die Wanderschuhe hoch. Sie sind trocken; es hat am Vortag geregnet, also können sie hier noch nicht lange stehen. Die Sohle ist ein bisschen abgelaufen. Größe 46. Sie gehören vermutlich einem größeren Mann. Wir schauen uns wieder um, gehen ein bisschen in den Wald hinein, bis dahin, wo das Unterholz beginnt. „Hallo! Ist da wer?“ Keine Antwort. „Hallo! Hallllooo!“
Wir überlegen, was passiert sein könnte: Vielleicht taten dem Mann die Füße weh. Er hat die Wanderschuhe durch seine mitgebrachten Turnschuhe ersetzt und sie dann unter der Bank vergessen. Ein Spaziergänger, der vorbeigekommen ist, hat sie obendrauf gestellt. Mmh. Nicht sehr wahrscheinlich. Oder: Jemand aus dem nahen Dorf hat sie nicht mehr gebraucht. Aber er wollte sie nicht wegwerfen. Auf die Bank hat er sie gestellt, damit ein Wanderfreund sie mitnehmen kann. Nicht ganz unwahrscheinlich. Oder es ist eine Kunstinstallation – gemacht, damit wir genau das tun, was wir tun: stehenbleiben, uns wundern und überlegen, was hier los ist.
Wir können uns keinen Reim darauf machen. So etwas macht mich immer unruhig. Ich male mir aus, wie jemand barfuß durch den Wald irrt, nicht mehr ganz bei Sinnen. Vielleicht sind die abgestellten Schuhe die letzte Verbindung zu der Welt, in der er sich nicht mehr zurechtfindet. Noch mal rufen wir in den Wald: „Hallo! Ist da wer? Es rührt sich nichts.
Wir geben auf und gehen weiter. Bald sehen wir die ersten Häuser. Eine Frau fegt vor ihrer Tür. Ich kann nicht anders, als ihr von den Wanderschuhen ein paar hundert Meter weiter im Wald zu erzählen. Sie ist auch erstaunt. Zum Abschied sagt sie: „Tja, einer wird die Auflösung wissen.“
Manches ist rätselhaft: Wanderschuhe stehen herrenlos im Wald. Dinge verschwinden und tauchen nicht wieder auf. Eine große Liebe kommt plötzlich abhanden. Eine Krankheit findet keinen Namen. Ein Mensch verändert sich ohne erkennbaren Grund. Ein anderer verändert sich nicht, allen Mühen zum Trotz.
Ist Gott der eine, der die Auflösung des Rätsels weiß? Aber Gott ist mir ja selbst ein Rätsel. Ich erkenne ihn in der verschwenderischen Blüte meines Magnolienbaums. Er legt uns ein Kind in die Arme. Er serviert uns einen Befund, der uns nach langer Zeit aufatmen lässt. Und dann verbirgt er sich wieder tage- und wochenlang, als sei er auf unbekannte Zeit verreist, die Nachrichten voll von Ereignissen, die mich fragen lassen: Gibt’s dich eigentlich, Gott? Die Bibel ist keine Hilfe: „Du sollst Dir kein Bild von Gott machen“ (1), sagt eines der Gebote. Es besteht darauf, das Rätsel „Gott“ zu wahren. Denn Gott kennen zu wollen, heißt Gott fassen zu wollen. Und Gott fassen zu wollen, heißt sich an ihm zu vergreifen.
Vielleicht möchte auch der Mensch, der die Wanderschuhe auf die Bank gestellt hat, ein Rätsel bleiben. Das Recht dazu hat er. Er ist ein Ebenbild des rätselhaften Gottes.
Es grüßt Sie, Pfarrerin Christel Weber aus Bielefeld.
(1) Die Bibel, 2. Mose 20,4.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze