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Kirche in WDR 4 | 16.05.2025 | 08:55 Uhr
Abwege
Guten Morgen.
Ich nenne sie heimlich Maria und Josef. Ich lerne sie in der Adventszeit kennen. Sie fragen, ob ich weiß, wo eine Wohnung frei ist. Zwei sympathische Leute. Die junge Frau ist hochschwanger.
Es gibt tatsächlich eine kleine Wohnung. Die beiden freuen sich. Wir helfen zwei Stündchen beim Einziehen, Kisten tragen, saubermachen, das, was Maria mit dem dicken Bauch nicht mehr kann. Josef, der eigentlich Juri heißt, rennt hektisch hin und her. Er raucht viel und telefoniert viel. „Geh besser nach draußen zum Rauchen - wegen des Kindes“, sage ich und beiße mir sofort auf die Zunge. Ich will nicht übergriffig sein.
Bald wird Hannes geboren. Juri
und Maria platzen vor Stolz. Ab und zu sehe ich Maria mit dem Kleinen
spazieren gehen. Dann bestaunen wir gemeinsam den kleinen Fratz. Der Kontakt ist
freundlich, aber er ist nicht eng.
Irgendwann fällt mir auf, dass Maria immer alleine mit dem Kinderwagen unterwegs ist: „Geht es Juri gut?“ frage ich, als wir uns sehen. Marias Antworten sind ausweichend. Ja, Juri ist viel unterwegs. Ja, Juri geht es gut. Manchmal guckt sie dann zur Seite.
Ein paar Monate später steht Juri vor meiner Tür. Abgemagert, bleich, er zittert. „Kannst du mich segnen? Jetzt? Frag bitte nichts. Ich meine, du kannst mich doch segnen, oder?“
Ich muss mir wieder auf die Zunge beißen. Ich möchte ihn fragen: „Was ist los? Warum bist du so nervös? Was ist passiert, dass du so abgenommen hast? Wo warst du? Warum willst du gesegnet werden?“ Aber ich frage nur: „Sind Maria und Hannes ok?“ Juri nickt. Ja, die sind ok.
Er möchte in die Kirche gehen. Wir gehen den kurzen Weg schweigend. Juri steht unruhig an den Stufen zum Altar. Andauernd schaut er sich zur Tür um. Ich bete zu dem Gott, der mehr weiß als ich.
„Meinst du, Gott nimmt mich an?“ fragt er, als ich mit dem Beten fertig bin. Ich habe keine Ahnung. Ich habe Bonhoeffers Wort von der „billigen Gnade“ im Kopf, und Vergebung ohne Wahrheit und ohne Bereuen ist mir eigentlich ein Gräuel: „Juri, willst du sagen, was los ist?“ Nein, Juri wiederholt es noch einmal: „Ich kann dir jetzt nichts sagen.“ Ich segne ihn - mit den alten Worten „Gott segne dich und behüte dich. Gott lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Gott erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“
Juri ist schnell weg. Erst eine ganze Weile später erfahre ich, dass er von der Polizei wegen bandenmäßigen Drogenhandels verhaftet wurde. Auch Maria und Hannes sind plötzlich weg. Sie haben sich nicht verabschiedet.
Segnen heißt: uns an unsere Bestimmung zu erinnern: So sind wir gemeint, und so sollen wir werden. Vielleicht hat Juri sich erinnert. Vielleicht wollte er gerne noch einmal von vorne anfangen. Segnen heißt: Es soll ihm gelingen.
Ihre Pfarrerin Christel Weber aus Bielefeld.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze