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Kirche in WDR 4 | 27.05.2025 | 08:55 Uhr
Wir sind Bettler
Guten Morgen!
Wer kennt das nicht: Du stehst auf dem Bahnsteig oder läufst durch die Stadt – und plötzlich steht jemand da, baut sich vor dir auf. Sofort ist klar, worum es geht, man sieht‘s im ersten Augenblick. Und hört es im zweiten. „Entschuldigung, haben Sie vielleicht etwas Kleingeld für mich, bitte…“
Vielreisende Kunden der Deutschen Bahn erleben die Szene mitunter mehrmals am Tag. Und reagieren durchaus verschieden. Viele schütteln stumm den Kopf. Einige gucken einfach weg oder starren zu Boden. Manche murmeln „Gerade nicht“, andere ein „Tut mir leid.“ Wenige zücken zögernd ihr Portemonnaie oder angeln ein paar Münzen aus der Hosentasche.
Was mich betrifft: mal so, mal so. Ich habe keine klare Strategie und entscheide fast immer spontan. Erscheint der Mensch tatsächlich bedürftig? Ist er höflich - oder fordernd? Wirkt es so, als habe er aus dem Betteln einen Job gemacht – oder sucht in Not hier jemand wirklich Hilfe?
Natürlich entscheidet meist der Zufall oder eher ein vages Gefühl – mehr noch meine Tagesform. Bin ich selbst schon müde, genervt und erschöpft, stehen die Chancen schlecht. Da kommen im Nu all die Abwehr-Gedanken. Wie kann das sein in diesem Sozialstaat, wo doch alle Anspruch haben auf das Minimum zum Leben? Warum kümmert der sich nicht? Und wenn nicht der Mensch selbst – warum nicht Sozialamt oder Jobcenter? Warum denn jetzt ich? Und überhaupt: Warum keine Arbeit? Und warum so viele – wie soll das denn gehen, selbst wenn ich wollte?
Meist fällt mir dann schon selber auf, warum das alles im Moment nicht hilft.
Seit langem weiß ich: Es liegt wohl vor allem an mir. An guten und entspannten Tagen begegne ich den Bahnhofs-Bittstellern anders. Bin ich ausgeschlafen und frei von Termindruck, ja bin ich gar in heiterer Verfassung, hole ich fast immer einen Euro aus der Börse. Selbst dann, wenn jemand mir Märchen auftischt – dann schmunzle oder grinse ich, und trenne mich doch leicht von meinen Münzen. Was soll’s. Ein Mensch wie Du und ich.
Und vielleicht kommt dieser Mensch mit seiner Bahnhofs-Bitte ja just deshalb daher, um mich exakt daran zu erinnern.
„Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Hat Martin Luther kurz vor seinem Sterben noch auf einen Zettel geschrieben und der Nachwelt hinterlassen. Wir sind Bettler, das ist wahr.
Ob weltberühmt oder kleines Licht, ob märchenhaft reich oder kirchenmausarm, ob hochverehrt oder Underdog: Wir sind und bleiben Bettler. Das ist die wahre Quintessenz des Lebens. Ich kann das Leben nicht einfordern, nicht einklagen, nicht einmal kaufen. Aber bitten kann ich darum, Gott um alles bitten. Gott dafür danken. Gott mit meinen Klagen in den Ohren liegen. Wenn’s sein muss ihn nerven wie Bettler auf dem Bahnhof.
„Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft, noch seine Güte von mir wendet,“ sagt einer in der Bibel. (Die Bibel, Luther 2017, Psalm 66,20) Trau dich. Es ist ein guter Tag dafür. Im Gegensatz Menschen mit ihren Launen schenkt Gott dir seine Güte leicht.
Ihr
Ulf Schlüter, Bielefeld.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze