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Das Geistliche Wort | 18.05.2025 | 08:40 Uhr
Pilger des Friedens
Guten Morgen!
In jedem Jahr bin ich als katholischer Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr unterwegs - und zwar Mitte Mai mit vielen Soldatinnen und Soldaten auf einer Friedenswallfahrt nach Lourdes. Dort treffen wir Angehörige anderer Streitkräfte aus der weiten Welt. So entsteht eine Gemeinschaft von vor allem jungen Soldatinnen und Soldaten, die den gesamten Pilgerort an der Gave im Südwesten Frankreichs füllt. Hier in Lourdes erschien die Jungfrau Maria der heiligen Bernadette Soubirous im Jahr 1858.
Als ich das Amt des Militärbischofs vor 14 Jahren antrat, waren deutsche Soldaten in Afghanistan im Einsatz. Und mir war nicht nur bewusst, wie gefährlich ihr Einsatz dort war, sondern auch wie sehr der Frieden in Afghanistan gefährdet war. Ich habe die Soldatinnen und Soldaten dort oft besucht, die Besuche dort haben sich mir eingebrannt: die Not der Soldatinnen und Soldaten und die große Not der vielen Menschen in Afghanistan, die unter schrecklichen Auseinandersetzungen und Gewalttaten litten. Bis heute spielen diese Erinnerungen bei den Wallfahrten nach Lourdes eine Rolle. Nur kommt heute noch hinzu: die Sorge durch den Krieg in der Ukraine. Und ich stelle fest: Wir leben in Zeiten größter Herausforderungen. Denn der Ukraine-Krieg ist mehr als ein militärischer Streit zweier Staaten. Er ist ein Symbol für eine Auseinandersetzung von Systemen geworden. Es geht um nichts Geringeres als um die Frage nach Freiheit und Gerechtigkeit, nach der Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren.
Ich sehe die sorgenvollen Gesichter von Soldatinnen und Soldaten, die in diesen Anliegen beten. Ich sehe auch Soldatinnen und Soldaten, die sich auf diese Pilgerfahrt gemacht haben und sehr nachdenklich sind, obwohl sie kaum religiös sind. Der Bedarf an Gesprächen und Austausch ist riesig. Bewegend sind für mich dabei immer wieder die gemeinsamen Gottesdienste, die Erfahrung von Gemeinschaft und das Gebet. Das zeigt mir: Da überall wächst in wichtigen Schritten Gottvertrauen – mitten in neuen Zeiten.
Musik I: Johann Sebastian Bach, Verleih uns Frieden gnädiglich (BWV 42-7); Jens Schöwings Blue Note Bach
Nicht nur der Ukrainekrieg zeigt: Wir leben in Zeiten größter Herausforderungen. Inzwischen investiert Deutschland viel Geld in die militärische Stärke und die sicherheitspolitische Widerstandsfähigkeit unseres Landes. Dabei ist mir bewusst: Das Gebot der Gewaltfreiheit und die Notwendigkeit legitimer Verteidigung stehen hier einander gegenüber. Und ihr Spannungsverhältnis ist nicht aufzulösen. Weder sollten wir dem Wunschdenken verfallen, dass alleine moralische Appelle Aggressionen stoppen könnten, noch dem Zynismus erliegen, dass militärische Stärke die einzige Antwort sei. Vielmehr geht es darum, die Balance zu halten: Entschlossener Schutz von Menschenleben und Recht sind ebenso bedeutsam, wie das Leitbild des Friedens, das niemals aus den Augen geraten darf.
Daraus ergeben sich viele Fragen, wenn es um eine realistische Friedensethik geht, die es mehr denn je braucht: Welchen Beitrag können wir Christen zur Friedenssicherung leisten? Und was meinen wir, wenn wir vom „gerechten Frieden“ reden? Wie sieht dann ein verantwortliches Verhältnis zur Gewalt aus? Was braucht es schließlich, um als Gesellschaft verteidigungsbereit zu sein, und zwar zivil wie militärisch?
Nach den Schrecknissen der Kriege des 20. Jahrhunderts rief im Jahr 1963 Papst Johannes XXIII. mit seinem Lehrschreiben „Pacem in terris“ – „Friede auf Erden“ zu einer Friedensordnung auf, die auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit gründet. Wir Deutschen Bischöfe haben genau in dieser Spur weitergedacht und im Jahr 2000 ein Schreiben verfasst, das den Titel trägt: „Gerechter Friede“.
Darin versuchen wir eine Antwort zu geben auf die zentrale Frage: Wie können wir Frieden schaffen und bewahren? Unsere Überzeugung: Gerechter Friede entsteht dort, wo bereits der Gewalt vorgebeugt wird, wo gerechte Verhältnisse geschaffen und Konflikte mit zivilen Mitteln bearbeitet werden, bevor sie eskalieren. Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit dienen dabei als „Leitplanken“. Und die Perspektive der Opfer von Gewalt muss ins Zentrum gerückt werden. Gerechter Friede blendet die Realität von Konflikten nicht aus, sondern sucht Wege, dieser Realität anders zu begegnen.
Militärische Gewalt wird dabei grundsätzlich zwar nicht ausgeschlossen, aber stets eingebettet in eine umfassende Friedensstrategie. Militärische Gewalt darf ausschließlich nur als „Ultima ratio“, als letztes Mittel angewandt werden. Papst Franziskus hat noch kurz vor seinem Tod genau diese Linie bekräftigt und gesagt: Krieg ist zu ächten! Und es muss eine internationale Rechtsordnung geben, die diese Gewaltächtung ins Zentrum stellt. Gerechter Friede bedeutet demnach: Frieden durch Gerechtigkeit zu schaffen, nicht Frieden durch Unterwerfung. „Das Recht des Stärkeren darf nicht die Stärke des Rechts brechen!“ Es bleibt damit klar: Frieden ist untrennbar mit Gerechtigkeit und Wahrheit verbunden.
Musik II: Traditional, Dona nobis pacem (für Klarinette und Klavier); Paquito D'Rivera, Alon Yavnai
Ich will noch einen Schritt weitergehen, wenn es darum geht, was Christen zur Versöhnung von verfeindeten Menschen und Systemen beitragen können. Denn Versöhnung zu stiften, ist ein Kernauftrag christlichen Glaubens! Jesus selbst hat geboten, die Feinde zu lieben und Vergebung nicht zu verweigern. Das heißt aber nicht: Frieden um jeden Preis. Oder: Ich kapituliere vor dem Bösen um der Versöhnung willen. Nein: Wahre Versöhnung baut auf Gerechtigkeit. Und letztlich gilt: Ohne Gerechtigkeit kein Friede. Deshalb ist es auch kein Widerspruch, jetzt gegen Ungerechtigkeit und Unrecht entschlossenen Widerstand zu leisten und dennoch im Herzen das Ziel der Versöhnung und des Friedens zu tragen. In unserer so komplexen Welt gilt: Christsein kann beides umfassen, wehrhaft zu sein und versöhnungsbereit zu bleiben! Es gilt, die Vision hochzuhalten, dass Feinde von heute die versöhnten Partner von morgen sein können!
Die bleibende Frage dabei ist: Wie finden wir ein verantwortbares Verhältnis zur Gewalt? Hier gilt ein doppelter Grundsatz: Gewaltfreiheit bleibt die Richtschnur. Aber das Recht auf Selbstverteidigung wird anerkannt, solange es keinen anderen Ausweg gibt. Das heißt: Es muss stets Ziel allen Tuns sein, Frieden möglichst gewaltfrei zu erreichen und zu bewahren. Daher ist der Griff zur Waffe illegitim, solange gewaltfreie Friedensmöglichkeiten nicht ausgeschöpft sind. Was aber, wenn ein Aggressor ohne Grund ein anderes Land überfällt, unschuldige Menschen tötet, Verbrechen begeht? Damit darf ein Aggressor nicht durchkommen. Selbst die Bergpredigt schließt in einer solchen Extremsituation das Recht auf Selbstverteidigung nicht aus! Und genauso wenig stellt legitime Selbstverteidigung das Ideal von Gewaltlosigkeit insgesamt infrage.
Dennoch bleibt jeder Waffeneinsatz ein moralisches Drama, das nur unter strengen Auflagen verantwortet werden kann. Und wer Gewalt anwendet, muss sich bewusst sein: Jeder getötete Mensch, selbst der feindliche Soldat, ist eine Tragödie. So verstehe ich, warum Papst Franziskus von der „Trauer über den Krieg“ spricht. Es hört sich widersprüchlich an, ist aber richtig: Wehrhafte Friedfertigkeit bejaht, alles für den Frieden zu tun – im äußersten Notfall auch mit Gewalt, um das Schlimmste zu verhindern. Und das bedeutet einen verantworteten Umgang mit Gewalt: Immer begrenzt, immer kontrolliert, immer orientiert hin auf das Ende der Gewalt. Nur so können wir friedenstüchtig bleiben.
Musik III: Traditional, Dona nobis pacem (für Bass und Mandoline); Edgar Meyer, Chris Thile
Kriegerische Gewalt beginnt übrigens nicht erst mit dem Einsatz von Waffen. In hybrider Kriegsführung sind es Informationen: Lügenpropaganda, Fake-News und ideologische Verzerrungen greifen die Urteilsfähigkeit der Menschen an. Daher hat die Kirche hier einen prophetischen Auftrag: Sie muss Lüge beim Namen nennen und die Wahrheit verteidigen. Als Kirchenvertreter sehe ich mich da in der Pflicht, klar Stellung zu beziehen gegen offensichtliche Lügen wie z.B. die absurde Behauptung, die Ukraine müsste „entnazifiziert“ werden, oder gegen die Verschwörungsmythen, mit denen Extremisten nicht nur in unserem Land Verwirrung stiften. Es geht um Fakten und moralische Klarheit. Es ist ein bleibender Auftrag letztlich aller Christen, der Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas entgegenzutreten, indem wir zur Wahrhaftigkeit mahnen und Ideologien wie Hetze entlarven.
Es braucht heute mehr denn je einen festen Wertekompass. Nach christlichem Verständnis ist er den Zehn Geboten verpflichtet und der Botschaft Jesu. Es geht um Grundwerte wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Nächstenliebe, Vergebung, aber auch Verantwortlichkeit und Gesetzestreue. Diese Werte sind das tragende Gerüst unserer freien Gesellschaft. Sie gelten für das Zusammenleben innerhalb unserer Gesellschaft und müssen verteidigt werden gegenüber den Übergriffen von außen, die dieses Wertegerüst zum Einstürzen bringen wollen. Das heißt: Es gibt eine moralische Verteidigungslinie im Inneren, aber auch eine territoriale Verteidigungslinie im Äußeren. Beides gehört zusammen.
Musik IV: Traditional, Dona nobis pacem / Auld Lang Syne (für Violoncello und Trompete); Yo-Yo Ma, Chris Botti
Nicht nur bei der Soldatenwallfahrt nach Lourdes halte ich es für eine wichtige Aufgabe der Kirche, sich als Leuchtturm zu positionieren. Ich werbe überall dafür, die Grundwerte unserer Gesellschaft zu verteidigen und einzufordern. Denn: Orientierung durch Wahrheit und Werte macht es erst möglich, Brücken zwischen Menschen zu schlagen, die der Krieg innerlich zu trennen droht. Es ist so wichtig, Wahrheitssinn, Zusammenhalt und Gerechtigkeitsempfinden zu leben. Gerade in einem hybriden Krieg, wo Informationen als Waffen eingesetzt werden, um Gefühl und Herz zu treffen, zu verwirren und zu missbrauchen, braucht es eine klare Haltung, damit unsere Gesellschaft nicht zerbricht ohne einen einzigen feindlichen Soldaten auf unserem Boden. Als Bischof werbe ich unermüdlich dafür, diese Gefahr sehr ernst zu nehmen und ihr entschieden entgegenzutreten. Wir als Kirche sind kein militärischer Akteur. Wir sind aber ein entscheidender Akteur für Widerstand und Entschiedenheit im Blick auf Grundwerte, Würde und Recht. Unser Ziel ist klar: Es geht um Frieden. Es geht darum, alles zu tun, Krieg zu verhindern.
Darum müssen wir jetzt im besten Sinne des Wortes kämpfen – mit unseren Mitteln für Recht und Gerechtigkeit, für Freiheit und Barmherzigkeit, dafür, dass Menschen ein gerechtes und gutes Leben führen können. Es muss darum gehen, in allem den Frieden zu verteidigen, damit wir als freie Gesellschaft weiterleben können. Darum ist das Motto der diesjährigen Soldatenwallfahrt nach Lourdes so bedeutsam. Es ist von Papst Franziskus übernommen, das er über das Heilige Jahr 2025 gesetzt hat: Wir wollen „Pilger des Friedens“ sein. Dabei gilt es, dem nachzukommen, was Christen jedes Jahr an Weihnachten im Evangelium hören: „Friede auf Erden den Menschen guten Willens!“ Das ist für mich kein behaglicher Weihnachtsspruch, sondern ein Programm. Guter Wille bedeutet nämlich, zunächst Glaube, Vernunft, Empathie und auch Spiritualität zu stärken. Konkret: Alle Menschen guten Willens sollen eine ethische Selbstverpflichtung zu Frieden und Humanität eingehen.
Ich bin dabei der festen Überzeugung: Über uns steht ein Gott, der den Weg des Friedens mitgeht. Darum braucht der Friede immer wieder inspirierte Friedenstifter, die aus ihrem Glauben und ihren Überzeugungen Mut schöpfen und dafür einstehen, dass in allem der Friede ein Werk der Gerechtigkeit ist (vgl. Jes 32,17). Dafür betet nicht nur in diesen Tagen der Wallfahrt nach Lourdes
Ihr Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen und Katholischer Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr
Musik V: Felix Mendelssohn Bartholdy, Verleih uns Frieden gnädiglich (MWV A 11), Chamber Choir of Europe, Nicol Matt, Württembergische Philharmonie Reutlingen