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Das Geistliche Wort | 06.07.2025 | 08:40 Uhr
Wo ist die Weisheit geblieben?
Wo ist eigentlich die Weisheit geblieben? Angesichts der täglichen Nachrichten, in denen von Politikern berichtet wird, die scheinbar einfache Lösungen und Statements auf die komplizierten Probleme dieser Welt bereithalten, frage ich mich das immer häufiger: Wo ist eigentlich die Weisheit geblieben? Mein Eindruck: Sie ist eher verborgen als öffentlich, eher leise als laut, eher zögerlich als hektisch, eher nachdenklich als spontan. Kein Wunder, dass es die Weisheit nicht leicht hat in einer medialisierten Zeit, wo unaufhörlich Informationen niederprasseln, schnelle Reaktionen erwartet werden und Geschwindigkeit ein Selbstzweck ist. Im Zeitalter von Whatsapp, Instagram und X, was auch schon längst nicht mehr Twitter ist, zählt der aktuelle Status: Was machst du gerade? Darum geht’s. Aber die tiefer liegende Frage bleibt außen vor: Was beschäftigt dich wirklich und was ist sinnvoll? Es zählt offenbar mehr das, was erheischt, als das, was im eigentlichen Sinne des Wortes er-fahren wird. Denn die Weisheit lebt davon, nachzudenken über das, was ich erfahren habe. Und allein deswegen schon hat sie einen langen und langsameren Atem. Wo ist also die Weisheit geblieben? Guten Morgen!
Musik I: Arvo Pärt, O Weisheit (https://www.youtube.com/watch?v=at6wf0rb5tQ)
Wo ist die Weisheit geblieben, die zum Beispiel abwägt? Jeden Tag höre und lese ich Nachrichten aus aller Welt – vor allem aus den Kriegs- und Krisengebieten – was an schrecklichen Dingen passiert, und ich kann all das nicht ändern. So wichtig die Informationen auch sind, sie überfordern mich. Kein Wunder, dass Psychologen inzwischen dazu raten, auch mal abzuschalten und auf Informationen zu verzichten, um sich selbst zu schützen. Dann aber gilt es abzuwägen: Was nützen mir all die jeweiligen Information – um zum Beispiel mitzureden – und wo überfordern sie mich? Wo ist die Weisheit geblieben, die Position und Gegenposition, These und Antithese bedenkt? Wo ist schließlich die Weisheit geblieben, die Uneindeutigkeiten aushält, Zweifel benennt und die sogar das unauflösbare Paradoxe nicht scheut?
Ich denke da zum Beispiel an folgendes: Wie gehen Einzelinteressen und Demokratisierung zusammen? Bei einer Eigentümerversammlung einer Hausgemeinschaft wird etwas beschlossen, aber eine Partei empfindet diesen Beschluss gar nicht als für sie bindend. Oder nehmen Sie die Wahl zur Besetzung des Bundespräsidiums des Deutschen Bundestages. Laut Geschäftsordnung des Bundestages soll jede Fraktion dort vertreten sein, aber der jeweilige Kandidat braucht dazu die Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages. Und so kommt es, dass die AfD als zweitstärkste Partei im Bundestag, keinen Sitz im Präsidium erlangt. Der daraus resultierende Streit ging bis zum Bundesverfassungsgericht, das entschied: die Mehrheit hat Recht.
Oder noch ein anderes Konfliktfeld: Wie passt die Transparenz einer Informationsgesellschaft zusammen mit dem Datenschutz? Totale Aufklärung, ja – aber bitte keine gläsernen Menschen. In einem Konfliktfall sollen alle Hintergründe offengelegt werden, aber bitte nur dann, wenn ich selbst nichts preisgeben muss. Und dann passiert kurioserweise umgekehrt: Einzelne Menschen, die sich dagegen wehren, dass ihre Daten offiziell erhoben werden, stellen freiwillig Intimstes von sich selbst ins Internet. Verrückte Welt. Wo ist da die Weisheit geblieben?
Und noch ein letztes Beispiel: Ich ärgere mich regelmäßig über die Deutsche Bahn, weil sie nicht zuverlässig ist, und ihre Bitte um Entschuldigung zwar gut gemeint, aber inflationär ist. Wenn ich selbst aber nicht zuverlässig bin, dann fallen mir unzählige Gründe ein, warum das so ist – und ich bitte womöglich noch nicht einmal um Entschuldigung dafür. Anders formuliert: Alles muss optimal sein, und ich selbst erliege dann dem Stress, auch perfekt handeln zu müssen.
Wie viel weniger Erschöpfung gäbe es wohl, wenn allgemein die Ansprüche etwas reduziert würden: Stopp dem Burnout durch mehr Gelassenheit und Entspannung. Mir kommt es so vor, als ob wir alle uns selbst strangulieren angesichts überzogener Erwartungen an diese Welt und an uns selbst, Erwartungen die doch nicht erfüllt werden können. Das Leben ist genuin unideal.
Wo ist also die Weisheit geblieben, die uns in dieser unidealen Welt beiwohnt und darauf hinweist: Lauf nicht dem Fetisch hinterher, dass alles unendlich perfekt sein muss oder überhaupt nur perfekt sein kann? Wo ist die Weisheit, die Einhalt gebietet: Gut, dass die Dinge auch endlich und vergänglich sind?
Wie wäre es also einzuwilligen in den natürlichen Prozess des Werdens und Vergehens. Ich denke mir das gerade in der Zeit, wo ich mit über 60 Jahren feststelle: die Altersbeschwerden stellen sich nach und nach immer deutlicher ein. Ich sag nur: Knie und Arthrose. Wie wäre es also, Altern und auch Sterben zu akzeptieren und nicht verbissen alles aus der medizinischen Versorgung herauszuholen – und wenn es nur noch ein Leben an Maschinen sei? Wo ist die Weisheit geblieben, die Gelassenheit schenkt, in das einzuwilligen, was mir aufgegeben ist und ich nicht ändern kann?
Musik II: Peter Tschaikowsky: 5. Sinfonie (Schicksals-Sinfonie); IV. Finale. Andante maestoso
Wo ist die Weisheit geblieben?
„Die Weisheit war als geliebtes Kind bei Gott. Sie war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit. Sie spielte auf seinem Erdenrund, und ihre Freude war es, bei den Menschen zu sein.“
Was für ein Bild angesichts der komplizierten Probleme und Widersprüche dieser Welt: Die Weisheit als spielendes Kind. Das Bild stammt aus der Weisheitsliteratur der Bibel, aus dem Buch der Sprichwörter (nach Spr 8,30f). Und ich kann mir das gut vorstellen: Ein Kind spielt, ob im Sandkasten, mit Bauklötzen oder mit einer Puppe, ganz versunken in eine Sache, ganz ernst, obgleich es um nichts geht. Ein heiter-ernsthaftes Spielen der Weisheit, das hilft, diese Welt mit anderen Augen zu sehen und sich nicht in Extreme zu verbeißen. Immerhin, die Weisheit zählt zu den wichtigen und wesentlichen Eigenschaften Gottes und wird im Christentum allen drei göttlichen Personen zugesprochen: Gott-Vater, Gott-Sohn, Gott-Heiliger Geist. Gott ist als der Eine in drei Personen da. Und damit ist er sich selbst bereits immer schon ein Gegenüber, das ja vielleicht auch mit sich selbst spielt. Und indem Gott immer schon in sich Beziehung, Dialog, Kontroverse und Ergänzung ist, widersteht er jeder Art, die Dinge zu vereinfachen. Er erfasst auch noch all das, was so kompliziert erscheint – und das spielerisch. Gott weiß immer schon, wie vieldeutig und abgründig diese Welt ist, und er umfasst die ganze Wirklichkeit und Welt. Der große deutsche Dichter Friedrich Hölderlin hat das auf eine treffende Formel gebracht: „Nicht umschlossen werden vom Größten, sich umschließen lassen vom Kleinsten, das ist göttlich.“[1] Gott kann immer auch noch anders, vereint Widersprüche und hält sie zugleich aus, überwindet Paradoxe, ohne sie aufzulösen, und begleitet so heiter-ernst das menschliche Leben mit allen Höhen und Tiefen. Genau darin zeigt sich auch die göttliche Weisheit, die immer noch einmal anders denkt, sieht und handelt, als wir es uns vorstellen können. Wie wäre es, sich mit dieser Weisheit zu verbinden: Wie das spielende Kind heiter-ernst diese unsere Welt zu sehen? Denn sie ist eben letztlich von Gott umfangen und durchdrungen! Dass würde uns Menschen gut anstehen in unserer komplexen und komplizierten Welt.
Musik III: Chick Corea, Children Songs, Nr. 9
Wo ist die Weisheit geblieben? Sie lässt sich finden, allerdings setzt das voraus, sie auch wirklich zu suchen, nach ihr zu fragen und um sie zu bitten. Eine der eindrücklichsten Geschichten, wo um die Weisheit gebeten wird, erzählt die Bibel im ersten Buch der Könige (vgl. 1 Kg 3,1-15). Es geht um Salomo. Der gilt als ein sehr weiser König. Aber das war er nicht von Anfang an. Als Salomo nämlich den Thron seines Vaters David besteigt, ist er noch sehr jung und unerfahren. Er weiß nicht aus noch ein angesichts der politischen Verantwortung, die jetzt auf ihm liegt, denn er soll ein großes und mächtiges Volk regieren. Das hatte ihm sein Vater David hinterlassen, und damit ein schweres Erbe. Da erscheint Gott dem Salomo in einer Vision und fordert ihn auf: „Sprich eine Bitte aus, die ich dir gewähren soll!“ Und Salomo bittet: „Verleih … deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht!“ Von dieser Bitte ist Gott offenbar selbst überrascht und antwortet: „Weil du gerade diese Bitte ausgesprochen hast und nicht um langes Leben, Reichtum oder um den Tod deiner Feinde, sondern um Einsicht gebeten hast, um auf das Recht zu hören, werde ich deine Bitte erfüllen. Sieh, ich gebe dir ein so weises und verständiges Herz, dass keiner vor dir war und keiner nach dir kommen wird, der dir gleicht.“
Was ich an dieser Geschichte bemerkenswert finde? Salomo weiß um sich selbst. Er gesteht sich und Gott ein, dass er noch sehr jung ist und weder aus noch ein weiß. Und daraus folgt dann erst seine Bitte an Gott um ein hörendes, weises Herz. Und damit traut er offenbar Gott zu, dass er ihm tatsächlich die Bitte gewähren kann. Vielleicht war Salomo ja doch schon sehr früh weise, da er diese Selbsterkenntnis hatte und sich diese auch eingestehen konnte?! Eine andere biblische Figur, der Weisheitslehrer Jesus Sirach, der hat das so formuliert (Sir 1,14): „Der Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht!“ Das meint nicht, Angst vor Gott zu haben. Nein, etwas ganz anderes ist damit gemeint: Erkenne Gott an als denjenigen, der er ist, und setze damit realistische Maßstäbe. Er ist Schöpfer – und du selbst bist Geschöpf. Er ist unendlich – und du selbst bist endlich. Er ist allmächtig – und du selbst bist eher ohnmächtig. Er ist groß und steht an erster Stelle – und dann erst kommt alles andere. Dieses Bekenntnis und diese Selbsterkenntnis wären der Anfang der Weisheit. Wo ist die Weisheit geblieben? Mit Salomo und Jesus Sirach ließe sich antworten: Erkenne dich selbst mit deinen Stärken und Schwächen, vertraue Gott, und du kannst sie finden. Oder, um es im Sinne der Bitte des Salomo aktuell zu übersetzen auf weises politisches Handeln: Mach Gott wieder groß und nicht dein Land!
Musik IV: Miles David, Time after Time
Wo ist die Weisheit geblieben? Im besten Falle eröffnet sie ja alte, neue und manchmal auch ungewohnte Einsichten für das eigene Leben, meist kurz und prägnant. Ich bin fündig geworden bei dem weisen König Salomo. Immerhin, ihm werden laut Bibel 3000 Sprichwörter nachgesagt und es lohnt sich, da einmal nachzulesen. Denn oft entsprechen diese Sprichwörter einer tiefen Lebenserfahrung und sind ganz alltagstauglich. Da heißt es dann zum Beispiel (Spr 10,4): „Lässige Hand bringt Armut, fleißige Hand macht reich.“ Oder (Spr 15,16): „Besser ein Gericht Gemüse, wo Liebe herrscht, als ein gemästeter Ochse und Hass dabei.“ Oder (Spr 29.23): „Hochmut erniedrigt den Menschen, doch der Demütige kommt zu Ehren.“ Stimmt alles, würde ich sagen. Und so ist die Weisheit für mich ein riesiger Schatz, der letztlich genauso unerschöpflich ist wie Gott selbst, zu dessen Eigenschaften die Weisheit ja zählt. Daher gilt für mich auch der Spruch (Spr 15,16): „Besser wenig in der Furcht des Herrn als reiche Schätze und keine Ruhe.“ Aber damit will ich es jetzt auch gut sein lassen mit meinen Gedanken über die Weisheit. Es ist Sonntagmorgen. Da kann man ja auch mal vor sich hinschweigen. Denn: „Bei vielem Reden bleibt die Sünde nicht aus, wer seine Lippen zügelt, ist klug.“ … Das war jetzt wirklich mein letzter Weisheitsspruch aus der Bibel (Spr 10,19).
Weisheitliche Gedanken und einen schönen Sonntag! Das wünscht Ihnen Pater Philipp Reichling aus Duisburg.
Musik V: Chick Corea, Gary Burton in Concert, Zürich, Endless Trouble, Endless Pleasure
[1] Friedrich Hölderlin, Hyperion: Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est. Zitiert nach: https://www.projekt-gutenberg.org/hoelderl/hyperion/hyper100.html .