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Das Geistliche Wort | 17.08.2014 | 08:40 Uhr
Es muss nicht gleich vom Teufel sein
Ich hau hier ab, mit dir hält es ja keiner aus!“, schreit Gina ihre Mutter an. „Immer hast du was zu meckern, nichts mach ich dir recht, chill doch einfach mal und lass mich in Ruhe!“
Das war laut und deutlich! Der Aufschrei war nicht zu überhören. Ich selber habe mich gleich umgedreht, wie viele andere auch und habe beide etwas mitleidig angeschaut. Den anderen Passanten, die zuschauen, sind die Gedanken ins Gesicht geschrieben: Was hat die Mutter gemacht? Puh, ist die Tochter unverschämt! Was ist das denn für ein Benehmen! Gut, dass es bei uns nicht so ist.
Vielleicht keine ganz alltägliche Szene, aber ich habe sie vor ein paar Wochen selbst erlebt und sie bewegt mich immer noch. Guten Morgen liebe Hörerinnen und Hörer!
Musik I
Die Rebellion von Gina gegen ihre Mutter – ein Aufschrei auf offener Straße. Ich habe mir ein Herz gefasst und Gina und Ihre Mutter – ich nenne sie Frau Jakubeit – angesprochen und mit ihnen Kaffee getrunken. Gina musste unbedingt mit, dachte ich, damit nicht hinter ihrem Rücken erzählt wird. „Ich will nämlich meine Sicht erzählen“, sagt Gina.
Es hätte gut laufen können, bei den Jakubeits. Alle hatten die besten Vorsätze und dann die Arbeitslosigkeit des Vaters. Kein Job, kein Geld, keine Perspektive und ganz wenige Worte. Sprachlosigkeit lähmt die Jakubeits und dann geht er einfach, der Mann und Vater, wortlos, ohne Erklärung. Zurück bleiben Verzweiflung und Einsamkeit.
Seitdem muss Frau Jakubeit morgens recht früh aus dem Haus, sie hat vermutlich mehrere Putzstellen, aber genau weiß das keiner. Sie redet auch nicht viel darüber.
Frau Jakubeit geht meistens schnellen Schrittes, immer in Hast und Eile. Abends kommt sie mit mehreren Einkaufstaschen nach Hause, immer mit gebeugtem Kopf. Und Gina? Bei ihr bleibt die Sehnsucht nach früher, nach Papa. Der interessiert sich nicht mehr für Gina. Sie hat ihm Briefe geschrieben, ruft nach seiner Nähe – keine Antwort.
„Ich bin nichts wert“, denkt sie und beginnt sich selbst zu verletzen, ritzt sich die Arme auf, ist nicht mehr erreichbar für die Mutter, nicht mehr erreichbar für sich selbst. Ihre Welt ist schwarz. Als sie auf der Brücke steht, will sie springen in das schwarze Nichts unter ihr. Ihr Körperleben wird gerettet, da ist ihr Seelenleben aber fast schon tot. Die Mutter gibt nicht auf. „Man gibt Gas als Mutter, aber es reicht nicht aus“, sagt sie, „Ich bin immer drangeblieben, bin von Therapie zu Therapie, habe alles für sie gemacht, aber es hat nicht gereicht.“
Und Gina: „Du nervst Mama, nichts konnte ich tun, ohne, dass du mich gelöchert hast. Es gab keine Geheimnisse vor dir, du wolltest in mich reinkriechen. Neh, Mama, das will ich nicht, ich will nicht dauernd von dir kontrolliert werden.“
Und dann dieser verzweifelte Muttersatz: “Ich mein es doch nur gut mit dir!“
Bei diesem Satz schrillen bei Gina alle Alarmglocken, da tickt sie durch, da ist kein Halten mehr. „Ich will mein Leben leben, auch wenn es nicht nach deiner Vorstellung ist.“
Musik II
„Ich mein es doch nur gut mit Dir!“ Das ist genau der Satz, an dem bei vielen Menschen die Alarmglocken schrillen, denn gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht.
„Ich mein es doch nur gut mit Dir!“ Das ist genau ein Satz wie ihn auch eine sorgenvolle Mutter im Matthäusevangelium hätte sagen können, die sich auf den Weg zu Jesus macht.
Diese Frau ist genau wie Frau Jakubeit eine ganz engagierte Alleinerziehende. Sie hatte wohl von diesem Jesus gehört, der könne helfen – gerade wenn’s schwierig wird. Eigentlich gilt die Frau in den Augen der Juden als eine Nicht-Gläubige. Sie stammt nämlich aus Kanaan.
Aber sie, sie hat keine Berührungsängste. Ihr sind die Sozialklischees egal. Jesus – davon ist sie überzeugt – ist ihre letzte Rettung.
So rennt sie die Berge herunter, ist völlig aus der Puste, total verschwitzt und ruft schon von weitem: „Hab Erbarmen mit mir, du Sohn Davids.“
Mit der Zielsicherheit, die nur Mütter in Not haben, sieht sie Jesus da sitzen. Und sie kommt gleich zur Sache, denn sie hat nichts mehr zu verlieren: „Meine Tochter wird von einem Dämon gequält.“
Jetzt ist es raus! Eine beklemmende Diagnose.
Die Tochter hat einen Dämon? Für heutiges Verständnis unvorstellbar. Für damalige Verhältnisse ein Erklärungsmodell bei sozialen und psychischen Auffälligkeiten. Aber worunter leidet denn das Mädchen?
Könnte es sein, dass das Kind bloß seine Vorstellungen vom Leben hat, die gleich verteufelt werden? Gegen mütterliche Vorgaben rebelliert, schreit und tobt die Tochter, nur um ihre Selbstständigkeit zu retten. Sie will sich nicht einfügen in die Selbstverständlichkeiten des Lebens!
Also zieht sie alle Register, die junge Mädchen ziehen, um ein für alle Mal klarzustellen: „Ich bestimme mich selbst!“ „Ich will leben, jetzt – und zwar nach meinen eigenen Vorstellungen!“
Die Mutter hat schon alles versucht, sie einzuspuren. Nichts hat genutzt. Das Mädchen hat immer Wege gefunden auszureißen. Die Mutter kann nicht mehr. Sie weiß mit der Erziehung ihrer Tochter nicht weiter.
Und jetzt steht sie vor Jesus. – Und was macht er? Er ignoriert die Frau, sie scheint ihn zu stören, er guckt sie noch nicht einmal an. Welch eine Enttäuschung für sie – hatte sie sich doch so viel von ihm erhofft.
Aber sie lässt sich nicht abwimmeln, den ganzen Weg gelaufen um gleich beim ersten Versuch zu scheitern? Nein! Weitermachen. Sie versucht es nochmal und nochmal, lauter und lauter. Die Jünger Jesu sind genervt, merken: Die ist nicht abzuwimmeln, die hat Biss.
„Komm“, sagen sie zu Jesus, „tu endlich was, damit die still ist, die ist völlig durchgeknallt!“
Jesus ist immer noch abweisend. Er guckt demonstrativ in eine andere Richtung, murmelt: „Ich will der Fremden nicht helfen, sie hat einen anderen Glauben, ich bin doch nicht für Alles zuständig.“ – Puh, das sitzt!
Ich frage mich: Warum provoziert Jesus diese Frau? Ist die Frau nicht schon am Boden zerstört? Warum tritt er sie mit Worten?
Musik III
Jesus brüskiert die kanaanäische Frau. Mehr noch: Er konfrontiert sie mit ihrer eigenen Verzweiflung. Das ist wie ein Bohren, bis der Schmerz noch schlimmer wird? Vielleicht will er sie bloß loswerden?
Die Frau versteht es genau so. Aber sie ist beharrlich, fällt vor ihm nieder. Und wieder ihre flehentliche Bitte: „Hilf! Ich brauch dich für meine Tochter. Wir sind verstrickt in gegenseitiges Misstrauen und Angst. Nur du kannst uns helfen wieder Vertrauen zueinander zu finden.“
Jesus ist offenbar nicht zu erweichen. Das erwartet man von einem „lieben“ Jesus wohl kaum, liebe Hörerinnen und Hörer. Immer noch kein Entgegenkommen von Seiten Jesu, wieder weist er sie schroff ab. Er wird förmlich unverschämt: „Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.“ – Das sind Hardlinersprüche. Und die Frau? Sie bleibt auch hart, denn sie bittet weiter in ihrer Not! Sie leidet so sehr unter der Entfremdung ihrer Tochter. Sie hat – auf den Hund gekommen – jetzt auch nichts mehr zu verlieren, so entwürdigt ist sie. Und? Sie kontert und richtet erneut das Wort an Jesus: „Ich mag für dich wie ein Hund sein, ja, ich fühl mich auch so, ich bettle um deine Zuneigung, um ein Wort, um deine Hilfe. Ok, du hast Recht, mir steht nichts zu aus deiner Sicht, denn ich bin ja nicht rechtgläubig. Und so sitze ich auch unterm Tisch, da, wo die Hunde hingehören. Aber ich bleib trotzdem hier sitzen, ich geh nicht weg, denn manchmal fällt ja was runter vom Tisch der guten Gaben.“
Jetzt – endlich –Jesus wendet ihr den Blick zu. Er sieht die Frau, die ihre ganze Hoffnung in ihr Bekenntnis zu Jesus legt: „Hab Erbarmen mit mir, du Sohn Davids!“ Und – er hat Erbarmen! Sie hat es geschafft. Er nimmt ihre Not und ihr Bekenntnis in seine Hände, ist überwältigt von dem Ausmaß ihrer Beharrlichkeit.
„Dein Glaube ist groß“, sagt er zu ihr. „Komm steh auf, setz dich an den Tisch zu uns, du bist willkommen, ich habe Mitleid mit dir. Du hast deine Tochter alleine erzogen. Und du wolltest ihr zeigen, wie Leben richtig geht. Du hast ihr die Wege geebnet, sodass sie ohne Stolpersteine durchs Leben hätte gehen können. Du hast es gut gemeint – aber jetzt liegt ihr beide am Boden. Beide erdrückt von zu viel Fürsorge.“
Verwundert hört die Frau zu. Es geht also gar nicht mehr nur um ihre Tochter.
Es geht auch um sie selbst, um die Mutter?
Das ist wie ein Schleier der von ihr abfällt als sie das erkennt. Es geht um sie! Dann hört sie den Satz Jesu: „Was du willst, soll geschehen!“
Unglaublich, noch im Vater Unser lehrt uns Jesus, dass Gottes Wille geschehe! Und jetzt? Jetzt geschieht das, was die Frau sehnlichst erwünscht. Die verzweifelte Bitte dieser Frau rührt so, dass Gott selbst ihr gehorcht.
„Aber, was soll denn jetzt geschehen?“ Die Frau ist ganz verunsichert. Schien ihr gerade noch die Heilung ihrer Tochter im Vordergrund zu stehen, so sieht es jetzt anders aus. Denn die Antwort Jesu überrascht: „Lass sie frei aus deinem System. Dräng ihr nicht dein Leben auf. Nimm dein Kind wahr als selbstständige Person, lass sie selber denken und fühlen, ihr Leben gestalten, lass sie Eigenes entdecken.“
In diesem Augenblick weiß sie, nicht nur ihre Tochter ist geheilt, auch sie.
Musik IV
Die namenlose Frau aus dem Matthäusevangelium war ebenso geheilt wie ihre Tochter. Ich bin mir sicher: Diese namenlose Frau hätte auch für Frau Jakubeit eine Nachricht, von Frau zu Frau: „Hey Du, im Kampf mit unseren Töchtern wollten wir unseren Willen durchsetzen, sie förmlich gradeziehen.
Und die Dämonen, gegen die wir gekämpft haben, waren wir selbst. Ich weiß aber jetzt: Ich muss meine Tochter in die Freiheit entlassen!
Kinder werden nicht mit den Gesetzen der Moral aufgerichtet, sondern mit dem Vertrauen, das ich ihnen schenke. Ein Vertrauen, das getragen ist von der Zuversicht, dass Gott letztlich den Menschen begleitet.“
Und vielleicht hätte die namenlose Frau aus dem Matthäusevangelium noch eine andere Nachricht an Frau Jakubeit: Hey Du, pass auf Dich auf!
Musik V
Es grüßt Sie herzlich aus Essen, Barbara Mikus-Boddenberg.