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Das Geistliche Wort | 21.09.2014 | 08:40 Uhr

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"Der Sommer war sehr groß" - Vom Lebensgefühl zwischen 50 und 60

Autor: Herbstanfang. Guten Morgen am 21. September, einem Wendepunkt im Jahreslauf! Aus Neuss grüßt Sie Pfarrer Ulrich Pohl von der evangelischen Kirche. Von heute an sind die Tage bei uns wieder kürzer als die Nächte. Das Licht ist spürbar auf dem Rückzug. Ein Schatten legt sich auf die Sonnenuhren. So hat der Dichter Rainer Maria Rilke diesen Moment im Jahr beschrieben:

Sprecherin:

Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;

gib ihnen noch zwei südlichere Tage,

dränge sie zur Vollendung hin und jage

die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

(Rainer Maria Rilke, Herbsttag)

Musik: Antonio Vivaldi, Die vier Jahreszeiten, Sommer 1.Satz, Interpret: Nigel Kennedy; English Chamber Orchestra; Label: Emi Records Ltd., LC-Nr.: 0110; EAN: 0077774955720;

Autor: Was geht im Frühjahr auf vier Beinen, im Sommer auf zwei Beinen und im Herbst auf drei Beinen? Als Kind hat mich dieses Rätsel fasziniert. Das kommt wohl daher, dass ich den Fortgang der Jahreszeiten schon immer auf meine eigene Biografie bezogen habe. Im Frühjahr ist der Mensch ein Kleinkind. Es bewegt sich auf allen Vieren fort. Im Sommer, in der Lebensmitte geht er auf zweien. Und im Herbst, wenn seine Kräfte welken, auf dreien, er braucht eine Stütze.

Frühjahr, Sommer, Herbst – die Übergänge zwischen den Jahreszeiten sind fließend. Auch die von einem Lebensabschnitt zum anderen. Ich entwickle mich, als Mensch, als Person. Ich verändere mich. Doch wann hat welche Entwicklung angefangen? Wann hat es begonnen, dass ich mich für Fragen interessiert habe, aus denen später mein Beruf wurde? Wann hat es begonnen, dass ich auf bestimmte Personen aufmerksam geworden bin oder mich von anderen innerlich distanziert habe? Freunde und Freundinnen, Bekannte und Kollegen, die kamen, zu meinem Leben gehörten und wieder gingen?

Wann hat es angefangen, dass die Kräfte weniger wurden und nicht mehr? Der Sommer war sehr groß. Die bewegten Jahre meines Lebens waren ertragreich. Ist das nun der Übergang zum Herbst? Sind die Felder abgeerntet? Ist die Ernte eingefahren?

Musik: Antonio Vivaldi, Die vier Jahreszeiten, Sommer 2.Satz, Interpret: Nigel Kennedy; English Chamber Orchestra; Label: Emi Records Ltd., LC-Nr.: 0110; EAN: 0077774955720;

Autor: Ich schaue auf den Kalender 2014. Weit über die Hälfte des Jahres ist verstrichen. Wie ist das mit meinem Lebenskalender? Zwischen 40 und 50 konnte ich mich noch mit dem Gedanken trösten, was jetzt kommt, ist wenn es gut geht noch knapp die Hälfte. Jetzt, zwischen 50 und 60, ist es wohl realistisch, wenn ich vom letzten Drittel meiner Lebenszeit spreche. Meine Grenzen kommen näher.

Das ist mir dieses Jahr nach meinem Urlaub besonders klar geworden. Für gewöhnlich habe ich am Ende der Urlaubszeit Pläne für den Urlaub im kommenden Jahr geschmiedet. Habe voller Unternehmungslust auf fremde Weltgegenden geschaut und mir gesagt: Da und da fährst du auch noch mal hin. Dieses Jahr ist mir klargeworden: Ich habe vielleicht noch 20 Sommer, wo ich solche Sprünge machen kann. Das ist begrenzt. Ich werde ganz sicher nicht mehr alles sehen, was ich mir vorgenommen habe. Ich werde wohl nicht mehr in einem Kanu den Euphrat hinunter paddeln. Ich werde wohl auch nicht mehr mit dem Rad quer durch Europa fahren. Die Welt liegt mir nicht mehr zu Füßen. Ich muss mich beschränken in dem was ich von meinen Träumen noch Wirklichkeit werden lasse.

Das gilt für meinen Beruf. Zwischen 50 und 60 Jahren erreichen viele den Höhepunkt ihres Schaffens, stehen auf dem Gipfel ihrer Karriere. Ist das, was ich im Moment erlebe, auch mein Zenit?

Die Bibel erzählt die Geschichte von einem König, der ungefähr in meinem Alter war. Er hat alles geschafft, vieles bewegt und steht ganz oben. Es fällt ihm schwer, anzuerkennen, dass es höher nun nicht mehr geht. So überschreitet er seine Grenzen:

Sprecherin: Usjia war König von Israel. Sechzehn Jahre war er alt, als man ihn zum König gemacht hatte. Und er tat, was Gott wohlgefiel, solange Secharja lebte, der ihn unterwies.

Doch als Usija viele Taten getan hatte und sehr mächtig geworden war, überhob sich sein Herz. Er ging ins Haus Gottes, um auf dem Räucheraltar zu opfern. Da trat ihm der Priester Asarja entgegen und sprach: Es gebührt dir nicht, dem Herrn hier im Heiligtum ein Opfer zu bringen. Das dürfen nur die Söhne Aarons, wenn sie zum Priester geweiht sind!

Da wurde der König Usija zornig, denn er hatte schon ein Opfergefäß in der Hand.

Doch so wie der Zorn aus ihm herausbrach, brach an seiner Stirn auch ein Geschwür auf. Und ehe er sich‘s versah, war der König aussätzig geworden vor aller Augen.

Er regierte Israel noch, solange es Gott gefiel, doch fortan wohnte er als Aussätziger in einem Haus abseits und sein Sohn Jotam verrichtete die Amtsgeschäfte. (Nach 2. Chronik 26)

Autor: Groß war die Macht des Königs Usija. Stark war er von Charakter. Doch dann fällt ein Schatten auf die Sonnenuhr seines Lebens, ein Schatten, der ihn fortan begleitet. Ein Bruch, der nicht mehr heilt. Ein Handicap, das ihm eine langsame Gangart aufzwingt, mit dem er lernen muss, zu leben.

Ob sie wohl jeden einholen, diese Schatten? Manche tragen wir ja schon lange in uns. Wie viele meiner Selbstzweifel habe ich durch Arbeit und Erfolg überspielt? Was habe ich überdeckt, wo ich genauer hätte hinschauen müssen? Wie vielem, was sich fast unüberhörbar gemeldet hat, habe ich mich verschlossen? Wie viele meiner heimlichen Schwächen und Grenzen habe ich 30 Jahre lang mit Aktionismus und purer Belastbarkeit ausgeglichen? Und plötzlich passen in einen Tag nur noch vier Termine und nicht mehr sieben! Ich komme je älter ich werde an meine Grenzen und muss erkennen, dass es an mir und in meinem Leben Dinge gibt, die ich nicht managen kann, selbst wenn mein Selbstmanagement bis dahin noch so gut war.

Meine Gesundheit zum Beispiel entzieht sich meiner Verfügung, auch wenn ich noch so gesund lebe. Der Schlaf unterliegt nicht meiner Kontrolle. Der Weg, den meine Kinder einschlagen, die Entwicklung, den unsere Gesellschaft nimmt. Vieles davon versetzt mich in Aufruhr. Ich fühle mich dem, was um mich her geschieht, auch dem, was mit mir und in mir geschieht, stärker ausgeliefert als noch vor zehn Jahren. Ich werde dünnhäutiger, empfindlicher. Dünn wie die Blätter, die am Ende des Sommers langsam den Saft verlieren, sich färben und schließlich als Laub zu Boden fallen. Ist das der Lauf der Dinge?

Auch Antonio Vivaldi weiß etwas von dieser Melancholie der dritten Jahreszeit. Trotzdem gibt er seinem „Herbst“ eine optimistische Färbung. Für ihn färben sich die Blätter offenbar nicht braun, sondern golden, die Sonne scheint schräg und wirft ihr schönstes Licht. Der Saft der Reben schmeckt süß und – nein, die Erntezeit ist noch lange nicht vorbei. Von den Bäumen grüßen noch Äpfel und Birnen und alle die Früchte, die erst später im Jahr zur Vollendung und zur Reife kommen.

Musik Antonio Vivaldi, Die vier Jahreszeiten, Herbst 1.Satz, Interpret: Nigel Kennedy; English Chamber Orchestra; Label: Emi Records Ltd., LC-Nr.: 0110; EAN: 0077774955720;

Autor: Tänzerisch, beinahe spielerisch klingt das. Die Luft ist voller Melodien und Gesang. Erntelieder. Fröhlichkeit, Übermut beinahe. Ob er so aufregend wird, mein Herbst? Eigentlich wünsche ich mir, dass mein Leben in geordneteren Bahnen verläuft, undramatisch und ruhiger. Ich bin dabei, mir eine Art Programm zurechtzulegen. Ich höre jeden Tag eine halbe Stunde Musik, die ich gerne höre. Oder ich setze mich eine halbe Stunde in den Sessel und lese völlig zweckfrei ein gutes Buch. „Rezeptiver leben“ nenne ich das für mich, also „empfänglicher leben“. Weniger Aktion, weniger tun und machen. Mehr von anderen annehmen, mehr aufnehmen.

Die andere Hälfte meines Programms lautet: Spiritueller leben. Ich nehme mir mehr und regelmäßiger Zeit, um zu beten Dann breite ich das vor Gott aus, was mich bewegt und betrifft und vor allem, was ich brauche und ersehne. Und weil mich Streit und Konflikte mit meinen Mitmenschen mehr mitnehmen als früher, habe ich mir zum Grundsatz gemacht: Ich lege mich nicht mehr mit meinen vermeintlichen Gegnern an. Ich setze mich stattdessen mit Gott auseinander. Das tut einfach besser. Es trägt zum inneren und äußeren Frieden bei. Natürlich: Nicht jeden Konflikt kann man beilegen, indem man seine Haltung verändert. Aber doch erstaunlich viele. Und meist gerade die, die besonders wehtun. Ich will meine Kräfte nicht mehr vergeuden, indem ich mich in Machtkämpfen oder Kleinkriegen verzettele. Ich möchte mit meinen Ressourcen haushalten. Dazu gehört, dass ich sie nutze, um etwas von meiner Erfahrung und meiner Liebe weiterzugeben, und nicht von meiner Feindseligkeit. Dinge dagegen, die ich nicht mehr beeinflussen kann, Fragen, die ich nicht lösen kann oder nicht mehr lösen will, lege ich bei Gott ab. Bei ihm sind sie gut aufgehoben.

Musik Antonio Vivaldi, Die vier Jahreszeiten, Herbst 3.Satz, Interpret: Nigel Kennedy; English Chamber Orchestra; Label: Emi Records Ltd., LC-Nr.: 0110; EAN: 0077774955720;

Autor: Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr groß. Dieses Gedicht von Rilke ist genau besehen auch ein Gebet. Es gibt mir Ruhe und vermittelt mir etwas von der inneren Haltung der Einwilligung. Ja, die Zeit schreitet voran. Ja, es legt sich ein Schatten auf die Sonnenuhren. Aber dieser Schatten ist nichts, wogegen ich aufbegehren müsste, um nur ja weiter im Licht zu stehen. Der Schatten kommt von dem, der seine Hand ganz sacht über jedes Leben legt. Bei dem ich mich geborgen fühlen darf. Bei dem ich am Ende einmal auskomme.

Der Herbst kann beginnen. Ich freue mich darauf. Es verabschiedet sich Pfarrer Ulrich Pohl von der Evangelischen Kirche.

Musik: Antonio Vivaldi, Die vier Jahreszeiten, Herbst 3.Satz, Interpret: Nigel Kennedy; English Chamber Orchestra; Label: Emi Records Ltd., LC-Nr.: 0110; EAN: 0077774955720;.

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