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Das Geistliche Wort | 01.11.2014 | 08:40 Uhr
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Ruandas Heilige
Autorin: Guten Morgen! Zu „Allerheiligen“ grüßt Sie Pfarrerin Sylvia Bukowski aus Wuppertal. 9000 Kilometer von Zuhause entfernt habe ich sie im Frühjahr getroffen –Heilige. In Ruanda. Ich war von der Vereinten Evangelischen Mission und auf Einladung der Presbyterianischen Kirche in Ruanda dorthin entsandt, um angehende Pastorinnen und Pastoren zu unterrichten - an einer kirchlichen Universität.
Eigentlich werden in der Evangelischen Kirche Einzelne nicht als Heilige hervorgehoben. Wir sprechen lieber von der Gemeinschaft der Heiligen, zu der alle Christen gehören. Aber es gibt Menschen, die in besonderer Weise widerspiegeln, dass Gottes Heiligkeit etwas mit Heilen zu tun hat. Das sind einige der Frauen und Männer, denen ich in Ruanda begegnet bin. Ihnen hat die heilsame Kraft Gottes das Leben zurückgegeben. Nun tragen sie dazu bei, die Zerrissenheit ihres Landes zu heilen – zwanzig Jahre nach dem Völkermord.
Musik 1
Sprecher: Murambi
Umgeben von lieblichen Hügeln
und blühenden Wandelröschen
liegt der Ort des Grauens.
Murambi, früher einmal eine Schule,
mit vielen Klassenräumen auf weitem Gelände.
Am 21.4.1994 wurden dort in einer einzigen Nacht
mehr als 40.000 Tutsi geschlachtet.
Der Bürgermeister der nächstgelegenen Gemeinde
gratulierte den Mördern am Morgen zu der „guten Arbeit“.
Pfarrer feierten Dankgottesdienste.
Französische Soldaten,
zum Schutz der Verfolgten eingesetzt
errichteten Volleyballfelder auf den Massengräbern,
um zu vertuschen,
was in Murambi geschah.
Jetzt spielen Kinder vor den Toren.
Autorin: Wir stehen vor den vielen Fotographien der Toten in der Gedenkstätte von Murambi. Lucy zeigt auf Gesichter:
Den kannte ich, und diesen da auch.
Diese hier war meine Freundin.
Auch Lucys Mann wurde ermordet.
Vor den Augen ihrer Tochter.
Die verlor darüber den Verstand.
Als wir den Raum mit den mumifizierten Kinderkörpern betreten,
ist Lucy es, die mich tröstet.
Und am Ende sagt sie:
Wir leben!
Musik 2
Autorin: Der Völkermord an den Tutsi vor zwanzig Jahren durch die Hutu hat tiefe Wunden hinterlassen in den Seelen der überlebenden Männer, Frauen und Kinder und in der ganzen ruandischen Gesellschaft. Es war ein minutiös geplantes und bis ins Detail vorbereitetes Verbrechen. In der zentralen Gedenkstätte auf den Hügeln von Kigali - der Hauptstadt Ruandas - wird das Grauen dokumentiert.
Ich gehe langsam durch die Ausstellung. Ich lese Plakate aus der Zeit vor dem Völkermord. Abscheuliche Propaganda wurde da verbreitet. Beim Lesen habe ich oft an die Judenhetze denken müssen, die dem Holocaust voranging und ihn begleitet hat. Die Tutsi wurden als Fremdkörper im ruandischen Volk dargestellt, als reiche Schmarotzer, die jeder gute Hutu wie Ungeziefer, wie Kakerlaken möglichst vollständig vernichten muss.
In einem Ausstellungs-Raum hängen Fotos der Opfer, viele davon zerknittert, vielleicht unzählige Male ans Herz gedrückt, bevor sie hergegeben wurden zum öffentlichen Gedenken.
Zu sehen sind auch blutverschmierte Ausweise, in denen die „Rasse“ vermerkt war, Kleidungsreste der Opfer und die Mordinstrumente: Macheten und mit Nägeln bestückte Keulen. Im letzten Raum der Gedenkstätte: Kinderbilder und kurze Steckbriefe:
Sprecherin:
Ariane Umutono, 4 Jahre
Lieblingsessen: Kuchen
Lieblingsbeschäftigung: Singen und Tanzen
Todesursache: Schädel zerspalten
Sprecher:
David Mugiromeza, 10 Jahre alt
Hobby: Fußball
Lieblingsbeschäftigung: Leute zum Lachen bringen
Traum: Arzt
Letzter Satz: die UNO* wird kommen
Zu Tode gefoltert
Original*: UNAMIR - United Nations Assistance Mission for Rwanda
Autorin: Wie kann man mit diesen Erinnerungen leben?
Musik 3
Autorin: Ich stehe im Park, der die Gedenkstätte in Kigali umgibt. Hinter mir Gräber, in denen 250.000 Opfer begraben sind. 250.000 von einer Million – ermordet in 100 Tagen. „Never again!“, „nie wieder!“ steht auf einem der Blumenkränze. Anisi, eine kirchliche Mitarbeiterin, legt den Arm und mich.
Später zeigt sie mir das heutige Kigali: eine Boomtown mit vielen Hochhäusern, glänzenden Fassaden und ungewöhnlich sauberen Straßen. Unterwegs erzählt sie mir ihre Geschichte: Sie hat als einzige von ihrer Familie und ihrem ganzen Heimatdorf überlebt. Als die Schlächter kamen und die Schutzsuchenden in der Kirche niedermachten, war sie im Internat im Osten des Landes.
Ich hörte noch andere Geschichten des Grauens:
Der Leiter der theologischen Fakultät, ein Hutu, befragte als junger Theologe seinen Pfarrer zu den Morden. Dessen Antwort: „Die Tutsi sind die Amalekiter von heute. Gott selbst hat in der Bibel befohlen, sie zu vertilgen.“
Ein junger Mann, ebenfalls aus einer Hutufamilie, musste als Kind versteckte Tutsi suchen. Mit spielerischer Leidenschaft fand er viele. Sie wurden alle getötet. Er bekam damals eine Belohnung.
Wie kann man mit diesen Erinnerungen leben?
Musik 4
Autorin: Manche schaffen es nicht. Sie können mit diesen Erinnerungen nicht leben.
Anisi hat Jahre gebraucht, um ins Leben zurückzufinden. Der Verlust ihrer Familie und Freunde hat sie aus Ruanda getrieben. Sie wollte möglichst weit weg von allem was war. In Süd Afrika bekam sie einen Studienplatz. Körperlich hat sie funktioniert, sagt sie. Aber ihre Seele war tot. Als sie nach Ruanda zurückkam und eine Stelle in der Kirche antrat, hat sie nach langer Zeit wieder angefangen zu beten. Zögerlich zuerst. Wütend auf Gott. Empört über sein Nichtstun im Genozid. Verzweifelt über ihren nicht heilenden Schmerz. Aber sie hat weiter gebetet. Hat Gott ihr Herz ausgeschüttet. Und irgendwann war ihr Herz frei von der Wut, der Bitterkeit und dem Hass auf die Mörder.
Nun kehrt Anisi einmal im Jahr zurück in die Nachbarschaft ihres Heimatdorfes. Von dort sind damals die Mörder gekommen. Sie bringt den Kindern kleine Geschenke. und fragt:
„Warum wohne ich nicht mehr hier?“
„Weil du hier niemanden mehr hast“,
antworten sie.
„Und warum kehre ich zurück?“
Die Kinder schweigen.
„Wegen der Liebe, die den Hass überwindet.
Sie ist der Schlüssel zu unserer gemeinsamen Zukunft.“
Die Kinder lachen.
Musik 5
Autorin: Der Leiter der theologischen Fakultät hat nach der zynischen Antwort seines Pfarrers später in Lausanne über das Thema „Gewalt in der Bibel“ promoviert. Darin hat er sich kritisch mit dem göttlichen Befehl zur Vertilgung Amaleks auseinandergesetzt. Außerdem predigt er regelmäßig in einer kleinen Gemeinde, in der Witwen und Waisen des Genozids wohnen, aber auch strafentlassene Mörder. Den Gottesdienst feiern alle gemeinsam. An einem Sonntag bin ich eingeladen. Die Kirche ist aus Bambus und Stroh, kaum geschützt gegen die Stürme der Regenzeit. Ein Gemeindeältester empfängt mich vor der Tür. Sein schwarzer Anzug ist mindestens drei Nummern zu groß. Wahrscheinlich vom Markt, wo mit gebrauchter Kleidung aus Europa gute Geschäfte gemacht werden.
Ich darf mich vorn, neben den Abendmahlstisch setzen und habe die ganze Gemeinde im Blick. Wer ist Hutu? Wer ist Tutsi? Wer war Opfer? Wer war Mörder? Wer hat seine Nachbarn verraten? Ich versuche, in den Gesichtern zu lesen. Spuren von Bosheit und Gewalt zu finden. Aber ich sehe nur menschliche Gesichter, gezeichnet von harter Arbeit und Armut.
Als ein Mann aufsteht und unter Tränen betet, flüstert mir der Pfarrer zu: Das ist einer der Mörder. Er redet von seiner großen Schuld und Gottes noch viel größerer Gnade. Die Gemeinde seufzt mit dem Beter mit, wie es üblich ist. Aber was denken die, deren Verwandte ermordet wurden?
Nach dem Genozid hat nur die presbyterianische Kirche, das ist eine reformierte Kirche, den Mut zu einem öffentlichen Schuldbekenntnis gefunden. Nur sie hat öffentlich um Verzeihung gebeten dafür, dass sie dem Hass nicht entschiedener entgegengetreten ist, dass sie Menschen nicht besser geschützt hat, dass sie zu feige war, um Gottes Barmherzigkeit zu bezeugen.
Musik 6
Autorin: Im Gottesdienst höre ich verschiedene Chöre. Die Chorleiterin heißt Annunziata. „Heute kann ich vergeben“, sagt sie. „Aber ohne Musik wäre ich gestorben.“ Der Chor singt von Jesus, sweet saviour, dem süßen Heiland, der alle Schuld vergibt und Menschen frei macht...
Musik 6 noch mal freistehend, dann unter Autorin bis „lebenslanger Prozess.“
Autorin: Ja, ich bin in Ruanda Heiligen begegnet. Manchen, die tiefe Wunden an sich tragen von Verlust und Trauer, anderen, belastet von schwerer Schuld. Sie alle sind Christinnen und Christen verschiedener Konfessionen. Sie haben sich aufgemacht auf den Weg der Versöhnung. Es ist ein langer Weg, Er fordert viel Kraft. Manchmal gibt es Rückschläge. Manchmal reißen die Wunden wieder auf. Versöhnung ist ein lebenslanger Prozess.
Ich habe große Hochachtung vor den überlebenden Opfern, die diesen Weg gehen. Sie ringen darum, vergeben zu können. Und darum, das Gift des Hassens und der Rachegedanken loszuwerden - in der eigenen Seele und in der ruandischen Gesellschaft.
Ich habe auch große Hochachtung vor den Mördern und den Mitläufern, die sich dem ganzen Ausmaß ihrer Schuld stellen. Und die den Mut finden, um Vergebung zu bitten.
Diese Menschen haben mich in meinem eigenen oft kleinherzigen Umgang mit Kränkung und eigener Schuld beschämt.
„Vergiss uns nicht, wenn du nach Deutschland zurückkehrst!“ haben mich viele Ruander gebeten. Allerheiligen ist, finde ich, ein guter Anlass, ihrer zu gedenken und die zu würdigen, die Gottes heilende Güte und Gerechtigkeit in dieses verwundete Stück Erde spiegeln. Unsere Welt braucht Heilige wie sie.
Ich wünsche Ihnen gute, heilsame Gedanken an diesem Gedenktag der Heiligen,
für die evangelische Kirche Sylvia Bukowski aus Wuppertal.
Musik 7
Musik 1: Track 1 “Mama Ararira”, Interpreten: Afro Celt Sound System & Dorothee Munyaneza; Komp.: Rupert Gregson-Williams von CD Hotel Rwanda – Music from the film, Label: Commotion Records, Copyright: (C) 2005 Commotion Records, ASIN: B00M0P8CKS (LC unbekannt).
Musik 2 und 7: Track 3 “Million Voices", Interpret: Wyclef Jean vom CD Hotel Rwanda – Music from the film, Label: Commotion Records, Copyright: (C) 2005 Commotion Records, ASIN: B00M0P8CKS (LC unbekannt).
Musik 3 und 4: Track 14 “Children Found", Interpret/in: Andrea Guerra von CD Hotel Rwanda – Music from the film, Label: Commotion Records, Copyright: (C) 2005 Commotion Records, ASIN: B00M0P8CKS (LC unbekannt).
Musik 5: Track 15 “Icyibo", Interpretin: Dorothee Munyaneza, von CD Hotel Rwanda – Music from the film, Label: Commotion Records, Copyright: (C) 2005 Commotion Records, ASIN: B00M0P8CKS (LC unbekannt).
Musik 6: Track 7 All Hail King Jesus, Interptreten: Jireh Gospel Choir von CD Jireh Gospel Choir, Label: R.A.M. Recordings; Copyright: 2004 Jireh Gospel Choir, ASIN: B003BSI4GU (LC unbekannt).
Weitere Informationen:
1.Ruanda - 20 Jahre nach dem Genozid: „Es ist noch nicht vorbei“. Ein Interview mit Pfarrerin Sylvia Bukowski.
http://www.ekir.de/www/service/ruanda-20-jahre-nach-genozid-17651.php
2.Vier Skizzen aus Ruanda von Sylvia Bukowski auf reformiert-info.de:
http://www.reformiert-info.de/12707-0-84-9.html
http://www.reformiert-info.de/12752-0-84-9.html
http://www.reformiert-info.de/12812-0-84-9.html
http://www.reformiert-info.de/12825-0-84-9.html
3.“Heilige“ in der Evangelischen Kirche:
http://www.ekd.de/glauben/abc/heilige.html