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Das Geistliche Wort | 02.11.2014 | 08:40 Uhr

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Sinnsuche

Wenn ich merke, dass ich dringend etwas für meinen Körper tun muss, dann gehe ich ins Fitnessstudio. Wenn mich eine Erkältung erwischt, suche ich die Ärztin meines Vertrauens auf. Und wenn eine größere Anschaffung ansteht, dann lasse ich mich gerne ausführlich beraten – ob im Geschäft oder im Internet. Und wenn ich nach dem Sinn des Lebens frage oder ich nicht weiß, was ich auf die großen Fragen meiner Kinder antworten soll? Dann geh ich..., ja wohin eigentlich?

Immer weniger Menschen gehen in so einem Fall zum Pfarrer oder zur Pfarrerin oder besuchen eines der vielfältigen Angebote der Kirche. Jährlich kündigen Hunderttausende der Kirche ihre Mitgliedschaft auf. Laut einer Sinus-Studie aus dem Jahr 2013 (1) messen Katholiken ihrer Kirche kaum noch Bedeutung bei und eine aktuelle Studie der Evangelischen Kirche (2) kommt zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Dabei müsste die Kirche eigentlich gut zu tun haben: Denn wir erleben gesellschaftlich derzeit eine Renaissance der Religion. Nur suchen die Menschen ihre Antworten nicht mehr in der Kirche. Das ist zunehmend ein Problem für die Kirchen. Ihre Botschaft vermittelt sich nicht. Woran liegt das? Mein Name ist Michael Birgden, ich bin evangelischer Theologe und Kommunikationsberater und lebe in Hürth.

Musik 1

Noch haben die christlichen Kirchen in Deutschland ein riesiges Filialnetz mit einem beeindruckenden Angebotsspektrum. Es reicht von Jugendfreizeiten über Taizé-Andachten und Oratorienaufführungen, über Männer-Kochgruppen bis zu Glaubenskursen und spirituellem Tanz. Außerdem hat die Kirche evangelische Beratungsstellen, Notfallseelsorge, Krankenhäuser und Altenheime, Kindertagesstätten und Schulen, Gottesdienste verschiedenster Art - nicht nur am Sonntagmorgen. Die Kirche versucht, sich auf die Bedürfnisse ihrer Mitglieder einzulassen und doch kommen die großen christlichen Kirchen nicht an bei ihren Mitgliedern. Das zeigt die neueste Mitgliedschaftsbefragung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Am Ende der Studie wird resümiert:

Sprecherin: „Eine wie auch immer geartete Umkehr der Trends ist nicht zu erkennen: Die absolute Zahl der Kirchenmitglieder sinkt kontinuierlich, die Kasualien werden seltener begehrt, mit jeder nachrückenden Generation wird die Relevanz von Glaube und Kirche in der Gesellschaft undeutlicher.“ (3)

Trotz aller Modernität und Kommunikationsbemühungen gerade zu ihren jüngeren Mitgliedern kann der Abwärtstrend der Kirchen nicht gestoppt werden. Im Gegenteil: Gerade die nachwachsenden Generationen stehen der Institution deutlich indifferent gegenüber. Ihre Bindung an die Institution ist deutlich loser als die vorhergehender Generationen - immer mehr können sich den Austritt vorstellen. Das heißt für die Entwicklung der Mitgliedschaft: Das Gros der kirchentreuen Mitglieder findet sich heute in der älteren, zahlenmäßig starken Generation. Die folgende Generation der Jüngeren ist zahlenmäßig viel kleiner – das ist die demografische Entwicklung. Und unter diesen wenigen jungen Menschen haben nur noch wenige eine stabile Bindung an ihre Kirche. Daraus folgt die nüchterne Prognose, dass die christlichen Kirchen bereits in 20 Jahren eine Minderheit in Deutschland sein können.

In der Mitgliedschaftsstudie der Evangelischen Kirche wurden über 3.000 Mitglieder befragt. Wie sie ihre Kirche erleben und in welchen Momenten und mit wem sie über Religion sprechen. Sie tun es - wenn überhaupt - in erster Linie im privaten Bereich: Der Ehepartner und die Lebenspartnerin, aber auch Freunde sind die wichtigsten Gesprächspartner über religiöse Themen. Es sind vor allem die 'Wahlverwandten' die religiöse Dinge miteinander besprechen - also Menschen, die sich einander sehr verbunden fühlen und sich wechselseitig ausgewählt haben.

Was aber, wenn das religiöse Wissen immer dürftiger ist? Noch haben die meisten eine wie auch immer geartete religiöse Sozialisation erlebt, an erster Stelle in der Familie, aber auch in der Schule und durch die Kirchen selbst, die im gesellschaftlichen Leben sehr präsent sind. Nach Feststellung der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hält aber nur noch die Hälfte der Menschen unter 30 Jahren eine christliche Sozialisation ihrer Kinder für wichtig.

Sprecherin: „Der dargestellte Trend eines deutlichen Rückgangs der religiösen Sozialisation lässt durchaus gravierende Veränderungen in der künftigen religiösen Landschaft der Bundesrepublik erahnen. Fehlende religiöse Erfahrungen, kombiniert mit abnehmendem religiösem Wissen, führen möglicherweise dazu, dass vielen (gerade jüngeren) Menschen ein Leben ohne Religion als selbstverständlich erscheint und dass dementsprechend die Bereitschaft, wiederum eigene Kinder religiös zu erziehen, erkennbar sinkt.“ (4)

Dabei kann man heutigen Elterngenerationen nicht vorwerfen, dass sie sich keine Gedanken machen würden. Im Gegenteil. Der Wochenplan für die lieben Kleinen ist vollgestopft und reicht von musikalischer Frühförderung über Bewegungsangebote für besseres Lernen bis zur Kreativschule in Kunstateliers. Die Kindheit mutiert zur Optimierungsphase für die spätere Karriere. Nur religiöse Bildung scheint dabei nicht angesagt zu sein. Was ich selbst für mein Leben für verzichtbar halte, werde ich auch meinen Kindern nicht weitergeben.

Und so erleben wir derzeit schleichend einen Traditionsabbruch, wie wir ihn bisher noch nicht kannten: Dass eine ganze Generation heranwächst ohne Gebet, ohne das Wissen um die christlichen Feste und ohne die Geschichten von Abraham und Sarah, von Mose und Noah, von Jesus und Paulus, von Maria und Elisabeth.

Warum fällt es Christinnen und Christen so schwer, ihren Glauben an die nächste Generation weiterzugeben? Vielleicht, weil sie die Sprachfähigkeit darüber verloren haben. Das Religiöse ist so sehr privat, dass es zum Tabu geworden ist, darüber zu reden.

Die Kirche könnte ein solcher Ort des religiösen Lernens sein, aber wie niederschwellig sind ihre Angebote wirklich? Wie wirkt ein Gottesdienst auf Menschen, die damit eben nicht groß geworden sind? Wie verständlich wird da von Gott geredet? Setzt das nicht immer schon Glauben und Glaubenserfahrung voraus? Wie erleben Kirchenferne einen Gottesdienst – fühlen sie sich willkommen? Oder eher fremd? Mit wem können sie hier zwanglos ins Gespräch kommen?

Musik 2

Dabei ist die Kirche nicht die einzige Institution, die Probleme mit dem Nachwuchs hat. Viele Institutionen haben heute ein Problem, wenn es darum geht, neue Menschen für ihre Sache zu gewinnen: Der Kulturbetrieb leidet unter mangelnden Besucherzahlen. Gewerkschaften und Parteien fehlen die jungen Mitglieder, Sportvereinen fehlen die ehrenamtlichen Gruppenleiter.

Wer Mitglieder halten möchte oder neue hinzugewinnen will, muss wirksam und gut mit ihnen kommunizieren. Und scheinbar gelingt das der Kirche derzeit nicht gut. Dabei kommuniziert sie doch auf allen Kanälen und so viel wie noch nie. Ob im Internet, in Zeitungen, ob durch Medienkampagnen oder in Gottesdiensten, bei Geburtstagsbesuchen oder im Gemeindebrief.

Offensichtlich – so hat es die Mitgliedschaftsstudie gezeigt – mit mäßigem Erfolg. Vielleicht liegt es daran, dass die Kirche trotz all ihrer Modernität an einem gewissen Sender-Empfänger-Modell festgehalten hat. Darüber täuschen auch nette Kampagnen oder stylische Webseiten nicht hinweg. Hier ist die Botschaft, heißt es. Die musst du jetzt nur noch verstehen und annehmen. Frei nach dem Motto: „Ich weiß, was du glauben musst.“

Dass das nicht funktioniert liegt auf der Hand. Wir leben in einer Zeit ständiger Verfügbarkeit von Informationen. Das Verhalten der Mediennutzer verändert sich permanent. Sie entscheiden jetzt selbst darüber, welche Informationen für sie wichtig sind. Brauchte das Fernsehen noch 30 Jahre (5) bis es zum Massenmedium wurde, hat es das Internet in weniger als 10 Jahren (6) geschafft und der Durchbruch der Social Media (7) hat nur noch 4 Jahre gedauert.

Immer mehr Angebote, Informationen, Bilder und akustische Reize buhlen um die knappe Ressource Aufmerksamkeit der Menschen. Es entsteht ein Aufmerksamkeitswettbewerb. Und darin stehen religiöse Deutungen und Sinnangebote in Konkurrenz zu anderen Anbietern. Da wird das Kino zur ‚Sinnmaschine‘, die sozialen Medien übernehmen die Trauerarbeit bei Katastrophen und Kirche ist lediglich noch eine Botschafterin unter vielen.

Was also tun? Ich glaube, zunächst muss einmal allen klar werden, was auf dem Spiel steht. Was für ein Verlust es sein wird, wenn der jahrtausendealte Erfahrungs- und Glaubensschatz der Christinnen und Christen nicht weitergegeben wird. Die jetzige Generation ist mit Glauben mehr oder weniger aufgewachsen. Da gibt es etwas, das man in sich trägt oder wogegen man sich zumindest abgrenzen kann. Es dürfte nicht das Interesse unserer Gesellschaft sein, eine Generation heranzuziehen, die nicht mehr weiß, wer Mose und Noah waren. Ein Generation, die keine Kriterien mehr hat, lebensdienliche Religion von radikalisierter Religion zu unterscheiden. Und Religion wird’s geben, dazu reicht ja schon ein Blick auf die Weltkarte. Nur nicht unbedingt die, die eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft wollen kann.

Musik 3 = Musik 2

Die Kirche selbst kann etwas tun: eine andere Haltung einnehmen und das Sender-Empfänger-Modell endgültig aufgeben. Sie muss den Menschen jenseits der Kirche religiöse Kompetenz zutrauen und ihre Erfahrungen ernst nehmen. Gott wirkt auch außerhalb der Kirche und ist dort erfahrbar. Auch kann die Kirche es sich nicht mehr leisten, die oft diffusen Sinndeutungen ihrer Mitglieder zu ignorieren. Sondern sie wird sie in ihre Angebote und Ansprachen integrieren müssen. Damit die Menschen, die immer noch in großer Zahl die Gottesdienste und Amtshandlungen der Kirche wie Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung besuchen, erleben: Das hat was mit mir und mit meinem Leben zu tun. Denn davon bin ich überzeugt, dass der christliche Glaube nichts von seiner Relevanz und Aktualität verloren hat. Mein Wunsch: Nicht mehr reden, aber mehr zur Sache reden. Den Kern im Blick behalten: Über das, was mich im Leben trägt, das, was meinem Leben Sinn und Ziel gibt. Die große Themen.

Und was ist mit mir? Ich brauche Weggefährten, die meine Sinnsuche teilen, mit denen ich mich an meine Lebensfragen herantaste, von denen ich gerne etwas annehme oder die es für mich auf den Punkt bringen können - und ich für sie. Und ich brauche Räume und Orte, an denen sich mein Herz und meine Seele öffnen können, an denen ich ohne Ablenkung zu mir selbst komme. Manchmal brauche ich auch kompetente Berater oder Beraterinnen, die in Glaubenssachen erfahren sind und mit mir zusammen spirituelle Möglichkeiten entdecken und finden, die mich durch das Labyrinth von Traditionen und Ritualen hindurch geleiten, ohne immer schon die Antwort oder die passende Bibelstelle parat zu haben. Und wenn ich dann nach dem Sinn des Lebens frage oder ich mal wieder keine passende Antwort auf die großen Fragen meiner Kinder parat habe? Dann sollte ich wissen, wohin ich gehe und wer mir in dieser Sache weiterhilft!

Es verabschiedet sich von Ihnen, Michael Birgden aus Hürth.

Musik 4

(1) Ein Übersicht der Sinus Milieu Studie und einige Reaktionen darauf hat die Seite KirchenVolksBewegung zusammengestellt: http://www.wir-sind-kirche.de/?id=125&id_entry=4465 (Stand: 16.10.2014).

(2) V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft: http://www.ekd.de/EKD-Texte/kmu5.html.

(3) Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, S. 128, Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 2014: http://www.ekd.de/EKD-Texte/kmu5_text.html (Stand: 16.10.2014).

(4) Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, S. 10, Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 2014: http://www.ekd.de/EKD-Texte/kmu5_text.html (Stand: 16.10.2014).

(5) In Deutschland 1928 erstmals präsentiert und 1959 Massenmedium.

(6) 1989 von Tim Berners-Lee entwickelte und um das Jahr 1997 bereits Massenmedium.

(7) Wikipedia wurde 2001, Facebook wurde 2004 und Youtube 2005 veröffentlicht, Social Media prägen bereits seit 2008 das Internet.

Musikangaben:

Musik 1: Track 8 Open the Eyes of my Heart von CD Journey – a praise of offering (solo piano), Komponist und Interpret (Piano): David Carnes, Label: David Carnes and MySound Studios / MySound Records (884501068178) (2008), (ohne LC).

Musik 2,3: Track 9 Live to Love von CD Mama Nature, Interpret und Komponist: Wally Warning, Label: Cunucu Records (2013), LC 10604.

Musik 4: Track 1 Weil du mich lässt von CD Wie ich bin, Interpretin und Text: Maite Kelly, Komponist: Götz von Sydow, Label: Seven Days Music (Sony Music) (2013), LC 01059.

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