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Das Geistliche Wort | 16.11.2014 | 08:40 Uhr

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Kriegskinder/Kriegsenkel

Autorin: Selbst wenn er vorüber ist, der Krieg, geht er weiter. Anders. Lebt in den Traumata der Überlebenden. Prägt Kinder und Kindeskinder. Wandert von Generation zu Generation mit. Bleibt nicht folgenlos.

Lutz Ulrich Besser (O-Ton 1): In der Auseinandersetzung mit den jähzornigen Impulsdurchbrüchen unserer kriegstraumatisierten Mutter musste ich früh lernen, mich zu wehren, Kräfte zu mobilisieren, Ressourcen zu finden, um den Abwertungen und Impulsdurchbrüchen etwas entgegenzusetzen. Und für mich war es eine große Chance, erfolgreicher Leistungssportler werden zu können und schließlich hat es sicherlich auch etwas damit zu tun, dass in meiner ärztlichen und später psychotherapeutischen Ausbildung (…) tatsächlich ich zu dem Traumathema gekommen bin und nach und nach verstanden habe, was in meiner eigenen Familie für traumatische Aspekte eine Rolle gespielt haben.

Autorin: So beschreibt der Arzt und Traumatherapeut Lutz Ulrich Besser, wie die Traumatisierung seiner Mutter im Zweiten Weltkrieg sein Leben bestimmt hat. Heute am Volkstrauertag möchte ich mit Ihnen darüber nachdenken, wie traumatische Kriegserfahrungen über Generationen hinweg weitergegeben werden und wie man lernen kann, damit umzugehen. Mein Name ist Sabine Haupt-Scherer, ich arbeite als Pfarrerin im Amt für Jugendarbeit der evangelischen Kirche von Westfalen und im LWL-Bildungszentrum Jugendhof Vlotho.

Musik 1: Some Other Time (4:29) von Wolfgang Haffner (Int, Comp, Arrang) / Hubert Nuss (Int.) / Lars Danielsson (Int.), Track 6 von CD Acoustic Shapes, Label: The Act Company, 2008, LC: 07644.

Autorin: Erst in den letzten Jahren ist deutlich geworden: Kriegskinder leiden oft bis heute unter den Erfahrungen, die sie als Kinder im Zweiten Weltkrieg gemacht haben. Schock und Lebensbedrohung haben sich in Gehirn und Gedächtnis eingebrannt. Traumata, wirken wie schreibgeschützte Dateien: Sie bestimmen das Leben des Betroffenen immer wieder so, als seien die bedrohlichen Ereignisse noch Gegenwart. Mal tauchen Reaktionen des Schocks wieder auf: Übererregung, Starre, Verzweiflung, Schuldgefühle. Mal führt die Übererregung zu Ausbrüchen von Wut oder Trauer, mal sind die Menschen wie abgeschnitten von allen Gefühlen. Und die traumatischen Erfahrungen entfalten ihre destruktive Wirkung auch auf die Menschen im Umfeld und in der Familie. Wo die Gefühle so von der Vergangenheit bestimmt sind, leiden die Beziehungen in der Gegenwart.

Kein Wunder, dass auch die nächste Generation nicht davon verschont bleibt – die Generation der Kriegsenkel. Zumal die Generation der Kriegskinder über die eigenen seelischen Wunden nicht reden konnte. Erst galt es, die Eltern zu schonen, die ohnehin schon so belastet waren. Väter waren als Soldaten verwundet worden oder lange in Gefangenschaft. Daheim gebliebene Mütter hatten gehungert, wurden ausgebombt, verletzt, vergewaltigt. So zeigten die Kinder nicht, wie sehr auch sie gelitten haben.

Später kam den Kriegsüberlebenden zu Bewusstsein: Wir sind Teil des Volkes, das so viel Leid über die Welt gebracht hat. Wie kann man da über eigenes Leid reden? Der Traumatherapeut Lutz Besser sagt:

Lutz Ulrich Besser (O-Ton 2): Dieser Mechanismus des Ausblendens, Verdrängens, vielleicht auch Verleugnens ist im Sinne des Funktionierens eine wichtige Strategie, um traumatische Erfahrungen nicht ständig ins Bewusstsein dringen zu lassen.

Autorin: Denn wo kriegstraumatisierte Menschen von Alpträumen und beängstigenden Erinnerungen geplagt werden, wo sie in so genannten Flashbacks die traumatische Situation wiedererleben, ist die Botschaft an die Kinder: „Die Welt ist unberechenbar und gefährlich, und ich kann dich nicht sichern!“ Da, wo Menschen immer noch von Übererregung aus dramatischen Zeiten geprägt sind, ist die Botschaft an die nächste Generation: „Du musst immer auf dem Sprung sein!“ Und da, wo Menschen die Erinnerung an Schreckliches immer vermieden und verschwiegen oder sie im Alkohol ertränkt haben, ist die Botschaft an die Nachkommen: „Du darfst nicht daran rühren!“ Für die traumatisierten Eltern ein Überlebensversuch, doch die Kinder sind zutiefst verunsichert. Sie haben kaum eine Chance, zuversichtlich, offen und gelassen in der Welt zu stehen und ins Leben zu gehen. Noch einmal Lutz Besser:

Lutz Ulrich Besser (O-Ton 3): Vom Bewusstsein abgespaltenes Leid, Not – schwerere Formen von Traumatisierungen können also für den Betreffenden von seinem eigenen Bewusstsein weitestgehend abgetrennt sein, aber unbewusst werden sie sozusagen an die Kindergeneration weitergegeben, indem Distanziertheit, Kühle oder gar aggressive Formen der Beziehungsgestaltung – im schlimmsten Fall auch körperliche Gewalt - in die Erziehung eingeflossen sind; nicht weil Eltern dann böse Eltern sind, sondern weil ihre eigenen Gewalt- und Demütigungserfahrungen als eine Art eigener Repräsentation in ihnen existiert, und sie das an ihre Kinder weitergeben.

Musik 2 =Musik 1

Autorin: Von den Propheten Jesaja und Ezechiel wird in der Bibel ein Sprichwort berichtet, das nicht länger gelten soll:

Sprecherin: „Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne stumpf.“ (Jeremia 31,29; Ezechiel 18,2)

Autorin: Auch damals ging es um den Umgang mit Kriegsfolgen: um die Folgen der Belagerung und Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier. „Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne stumpf“, sagten die Leute damals. Da sträubt sich alles in mir. Das hört sich an wie eine Kollektivstrafe. „Wie ungerecht“, denke ich. Und doch beschreiben die Menschen damals mit ihrem Sprichwort nichts anderes als das, was die Theologen Tun-Ergehen-Zusammenhang nennen: Es geht nicht um Strafe, sondern um eine der Tat innewohnende Konsequenz. Denn unser Tun ist nicht wirkungslos. Es hat Folgen – unvermeidlich.

Lutz Ulrich Besser (O-Ton 4): Ja, ich glaube, der Slogan, den wir kennen: Wenn ich aus meiner Geschichte nichts gelernt habe, so muss ich sie wiederholen – da ist sehr viel dran.

Autorin: Zwei Weltkriege in Europa haben Spuren in den Seelen der Menschen hinterlassen – über Generationen hinweg. Wir sind in den Tun-Ergehen-Zusammenhang eingebunden. Und zugleich haben wir die Verantwortung und die Freiheit, aus unserer Geschichte herauszutreten und Dinge zu tun, die andere Folgen haben. So sahen es schon die Propheten. Denn es geht nicht um Erbschuld oder Erbsünde, sondern um Verantwortung. Lutz Besser hat den Satz geprägt: „Gewalt macht kalt und krank.“ Und er meint damit, dass eigene Gewalterfahrungen sich wiederholen können in der Art, wie ich meine heutigen Beziehungen gestalte. Er erklärt diesen Vorgang so:

Lutz Ulrich Besser (O-Ton 5): Wenn Menschen mit Gewalt konfrontiert werden in Worten, in Bildern und in Taten, dann entsteht Angst, dann entsteht Stress, dann entsteht das Gefühl von Erniedrigung, wenn es körperliche Attacken sind, von Schmerz. Und diese sehr stark stressgeladenen Reize werden vom Gehirn dahingehend beantwortet, dass Schutzmechanismen aufgefahren werden und es zu Abspaltungen von Schmerz, Angst und Verzweiflung kommt. Aber diese Erfahrungen führen dann dazu, dass – wenn es über lange Zeiträume geschieht, dass sich geradezu nicht nur das einzelne traumatische Erlebnis fragmentiert im Gehirn abspeichert, sondern dass die Persönlichkeit in unterschiedlichen Ich-Zuständen dann im weiteren Verlauf des Lebens existiert und dann gibt es eben solche krankmachenden Persönlichkeitsveränderungen, dass – wie unsere Mutter auch – jemand auf der einen Seite sehr fürsorglich oder liebevoll sein kann, und plötzlich bricht dann Destruktivität und Gewaltbereitschaft da durch. Und das ist das, was ich meine, dass dann plötzlich Gefühllosigkeit, fehlende Empathiefähigkeit für den, den ich attackiere, vorhanden ist. (Stimme oben)

Musik 3 = Musik 1

Autorin: Der Philosoph Hans Jonas hat aus diesen Erfahrungen seine Verantwortungsethik entwickelt und gefordert: Jedes ethische Handeln muss von den möglichen Folgen her gedacht werden.

Und dann muss man heraustreten aus der Zwangsläufigkeit dieses Zusammenhangs von Tat und Tatfolge und mit neuem Verhalten neue Folgen möglich machen. Für die alttestamentlichen Propheten ist genau das die Verheißung: Es soll das Sprichwort: „Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne stumpf.“ nicht länger gelten. Und Gott wird euch ein neues Herz und einen neuen Geist geben, und damit wird neues Verhalten möglich werden, heißt es in der Bibel. Neuanfang ist denkbar.

In der Traumaforschung nennt man das „posttraumatisches Wachstum“. Im Überleben von schrecklichen, schmerzhaften und überfordernden Erfahrungen können Fähigkeiten entstehen, die wir ohne diese Belastungserfahrungen niemals erworben hätten. Und diese Fähigkeiten können für uns und andere Überleben und neues Leben sichern.

Lutz Besser hat durch seine Mutter und durch seine schweren Erfahrungen in der Kindheit gelernt,

Lutz Ulrich Besser (O-Ton 6): wie zerstörerisch für Leib und Seele Gewalt sein kann.“

Autorin: Er hat erkannt, wie die Gewalt seine Seele beschädigt hat, und er versteht es heute, Kindern und Jugendlichen zu helfen, die Gewalt erfahren haben. Und er unterrichtet andere Pädagogen, Ärzte und Psychologen in seiner Methode. Lutz Besser ist ein entschlossener Kämpfer gegen Gewalt geworden. Auch ich habe von ihm gelernt: mehr Verständnis für mich selbst und die Menschen um mich herum, mehr Mitgefühl für die Opfer von Gewalt. Er hat mich gestärkt in meinem Engagement gegen Gewalt und in meiner Wertschätzung für die Menschen, denen ich begegne.

Ich habe in der Ausbildung zur Traumapädagogin noch einmal tiefer verstehen dürfen, was Albert Schweitzer mit „Ehrfurcht vor dem Leben“ beschrieben hat. Deshalb ist mir Volkstrauertag auch heute noch wichtig: dass ich mir eingestehen kann, dass ich eingebunden bin in die gewalt- und leidvolle Geschichte meiner Vorfahren und meines Volkes. Ich spüre die Folgen – an mir selbst und in der Arbeit mit den Kriegsenkeln. Und ich bin zugleich mit dafür verantwortlich, dass wir anders handeln. Dass wir dafür sorgen, dass andere Menschen Erfahrungen machen, die besser, liebevoller und friedvoller sind. Für die Traumatisierten der zweiten und dritten Generation heißt das manchmal „mit gebrochenen Flügeln fliegen“: sich obwohl es schmerzt, in die Luft zu erheben zu neuem Leben hin - getragen von dem Gott, der ein Gott des Lebens ist.

Damit verabschiede ich mich von Ihnen, liebe Hörerin, lieber Hörer. Mein Name ist Sabine Haupt-Scherer, ich wohne in Bielefeld.

Musik 4 Track 8 Chat Pitre von CD Mare Nostrum

CD-Name: Mare nostrum

Track-Name/-Nr.:Chat Pitre / Track 8

Interpret:Jan Lundgren (piano), Paolo Fresu (trumpet, fluegelhorn), Richard Galliano (accordion, bandoneon

Komponist:Richard Galliano

Textdichter:--- (instrumental)

Verlag/Vertrieb:The Act Company

LC-Nr. 07644 Label:ACT Music

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