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katholisch

Das Geistliche Wort | 19.07.2015 | 08:40 Uhr

„Vergebung tut not!“

Guten Morgen!

Ich heiße Herman-Josef Grünhage und bin Schulseelsorger in Duisburg-Hamborn am bischöflichen Abtei-Gymnasium. Da geschieht es selten, dass Kolleginnen oder Kollegen zu einer Predigt, die ich im Schulgottesdienst halte, etwas sagen. Meist ist es dann etwas Positives. Einmal habe ich aber bei zwei meiner Kollegen Empörung hervorgerufen. Das war so: Ich habe im Gottesdienst folgende Geschichte erzählt. Zu einem Abt kommen Bewohner eines Dorfes, an dessen Rand ein Mönch als Einsiedler allein wohnt. Und sie kommen mit dem ungeheuerlichen Vorwurf, dieser Mönch, der doch keusch und ehelos leben sollte, habe eine Frau bei sich in der Mönchszelle. Der Abt macht sich mit den Leuten auf den Weg, um ihren Vorwürfen nachzugehen. Als aber der Mönch die Leute kommen sieht, packt ihn die Panik und er versteckt die Frau in einem großen Fass. Der Abt betritt die Mönchszelle, erfasst blitzschnell die Situation und – setzt sich auf das Fass. Dann winkt er die Leute herein und fordert sie auf, nach der Frau zu suchen! Natürlich finden sie die Frau nicht. Der Abt macht den Leuten Vorwürfe, dass sie so Schlechtes über den Mönch verbreitet haben und schickt sie weg. Den Mönch aber nimmt er bei der Hand und sagt zu ihm nur: Gib auf dich Acht, Bruder. Soweit die Geschichte aus der Mönchswelt des Altertums.

„Das ist ja typisch für die katholische Kirche!“ – empörten sich die Kollegen nach dem Gottesdienst. „Alles wird unter den Tisch gekehrt, man spricht nicht drüber, wenn Kirchenvertreter schlimme Dinge tun, über alles und jeden wird ganz schnell der Mantel der Vergebung gelegt.“ Natürlich hatten die Kollegen nicht ganz unrecht: Wenn ich an den Missbrauchsskandal denke, der die Kirche seit Jahren beschäftigt: Wie oft mussten die Missbrauchsopfer Gerechtigkeit einklagen, wie oft konnten die Täter im katholischen System abtauchen, wurden einfach nur versetzt oder sogar in ihren Ämtern belassen. Mit der Reaktion des Abtes in der Geschichte gesprochen: Reicht das, in einem solchen Fall zu sagen: Gib auf dich Acht, Bruder? Müsste nicht vielmehr die klare Frage gestellt werden: Was ist vergebbar und was nicht?

Musik I:

Was ist vergebbar, was nicht? In einem Religionskurs in der Oberstufe meiner Schule habe ich einmal nachgefragt. Was würde ich nicht vergeben? Und die Antworten: Mord an einer Freundin, einem Freund, einem Familienmitglied, Mord aus religiösen Motiven, Kindesmissbrauch, wenn jemand Unschuldige mit in den Tod reißt. Das klingt alles etwas weit weg. Meine Frau wurde da schon deutlich konkreter: Ehebruch würde sie mir nicht verzeihen.

Ich habe mich das auch selbst gefragt: Wo ist bei mir eine Grenze überschritten? Würde ich meiner Frau vergeben, wenn sie mich betrügt? Ich weiß nicht wie weit ich gehen würde, wo bei mir Schluss wäre mit dem vergeben, dass hängt wahrscheinlich von den Umständen und der konkreten Situation ab, vielleicht auch von der Zeit, die einen Abstand mit sich bringt.

Im Evangelium ist es Petrus, den diese Frage beschäftigt. Er fragt Jesus nämlich: Wie oft muss ich einem Mitmenschen vergeben? Sieben mal? Reicht das? Vielleicht hatte Petrus ja eine konkrete Situation vor Augen? Einen Streit mit einem anderen Jünger? Wiederholter Zank mit seiner Ehefrau? Vielleicht dachte er sich: Ich hab schon so oft verziehen, ich hab immer wieder klein beigegeben, jetzt muss aber auch mal Schluss sein, meine Toleranzgrenze ist erreicht. Petrus ist – meiner Meinung nach – schon ein sehr großzügiger Mensch. Er fragt ja immerhin, ob es reicht siebenmal zu verzeihen. Einem Menschen siebenmal zu verzeihen – das ist doch richtig viel.

Aber Jesus lässt es nicht bei dieser Zahl. Er sagt dem Petrus: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal sollst du verzeihen (vgl. Mt 18, 22). Natürlich möchte Jesus nicht, dass Petrus nachrechnet, wie oft er verzeiht. Was er dem Petrus sagt, das ist: Du sollst immer verzeihen, immer und immer wieder. Stellen Sie sich das mal vor! Sie sollen immer wieder verzeihen! Für mich hört sich das sehr unrealistisch an. Und das klingt doch wie ein „Persilschein im Vorhinein“: Du kannst machen was Du willst – ich verzeih dir ja doch. Aber so werde ich doch ausgenutzt und selber unglaubwürdig und das bedeutet letztlich Stress für mich. Kann es das sein? Vergebung immer und ewig?

Was aber wäre, wenn Jesus Vergebung limitiert hätte? – so frage ich mich. Ich selber sähe da wahrscheinlich schon ganz schön alt aus.

Wenn ich darüber nachdenke, wie viel Mist ich in meinem Leben schon gebaut habe, wie vielen Menschen ich nicht gerecht geworden bin, wie viele Menschen ich schon verletzt habe. Wäre Gott nur gerecht – meine Chancen vor ihm zu bestehen wären vermutlich nicht ganz so gut. Jesu Botschaft ist aber die Botschaft von einem Vater im Himmel, der nicht nur gerecht, sondern vor allem barmherzig mir gegenüber ist. Ich kann doch vor Gott überhaupt nur bestehen, weil er barmherzig ist und mir verzeiht. Und deswegen fordert Jesus mich auf: Wenn Gott dir gegenüber barmherzig ist und immer wieder vergibt, dann kannst du doch wohl auch großzügig sein. Es geht Jesus letztlich darum, mir Raum zu schaffen, in dem ich ohne Angst leben kann. Er schenkt mir die Freiheit großzügig zu sein, weil ich selbst auf so eine Großzügigkeit angewiesen bin, um zu leben.

Musik II

Vergeben eröffnet Freiheit. Wenn das aber mal so einfach wäre. Gottes Großzügigkeit der Vergebung sollte nicht verwechselt werden mit Gleichgültigkeit. Vergebung setzt ja erst einmal ein Versagen, Schuld voraus. Und Schuld darf nicht totgeschwiegen werden. Nein, Schuld muss eingestanden werden und das setzt eine kritische Selbstwahrnehmung voraus. Und auch dann, wenn jemand seine Schuld erkannt und bekannt hat – fällt es nicht leicht, so jemandem einen Neuanfang zu ermöglichen? Bestes Beispiel: der Heilige Paulus. Er hatte die Christen verfolgt, war einverstanden mit der Ermordung des Stefanus, der frei seinen Glauben an Christus bekannt hatte. Und jetzt hatte sich Paulus selbst zum Christentum bekehrt. Er wollte sich der jungen Christengemeinde in Jerusalem anschließen und – er stieß auf Ablehnung. Seine Gräueltaten sollten jetzt vergeben sein? Die Urgemeinde in Jerusalem tat sich schwer mit der Vergebung. So löst sie den Fall erst einmal pragmatisch. Sie schickt Paulus aus Jerusalem weg nach Tarsus. Und dann heißt es kurz – und ich höre förmlich den leichten Spott heraus in der Apostelgeschichte: „…und es herrschte wieder Frieden in Judäa, Galiläa und Samarien.“

Aber eigentlich tröstet mich diese Geschichte: Dem Anspruch Jesu wurden auch schon die ersten Christen nicht gerecht – immer zu vergeben. Vielleicht bleibt das Vergeben ja auch ein lebenslanger Lernprozess?

Musik III

Vergeben – ein lebenslanger Lernprozess? Vergeben kann ich lernen und auf lange Sicht macht Vergebung etwas mit mir, also nicht nur mit dem, dem vergeben wird, sondern mit dem, der vergibt.

Ich habe das erlebt, in Bosnien. Die Schule, an der ich unterrichte, hat eine Partnerschule in Bihac, im Norden Bosniens. Regelmäßig habe ich Schülerinnen und Schüler dorthin begleite zu einem Schüleraustausch. Durch die Jahre ist ein echtes Vertrauensverhältnis gewachsen und ich habe nicht nur viel von den Menschen dort erfahren, sondern auch über das Land. Bosnien-Herzegowina ist ein Land, das bis heute tief zerrissen ist. Von 1992 bis 1995 tobte dort ein Krieg zwischen katholischen Kroaten, orthodoxen Serben und muslimischen Bosniaken. In den Gesprächen mit den Menschen dort spüre ich immer noch die Feindschaft, die Unversöhntheit, die dort in den Herzen der Menschen wohnt wegen der vielen Verbrechen, die da geschehen sind. Ich habe versucht mir das einmal vorzustellen: Mein Vater wäre einfach so erschossen worden beim Heraustreten aus der Haustür von Angehörigen einer anderen Volksgruppe – oder meine Brüder wären im Krieg gefallen – oder meine Schwester wäre von Soldatenvergewaltigt worden. Da kommen Gefühle von Hass und Vergeltung auf – aber Vergebung? Was haben die Menschen in Bosnien Herzegowina nicht alles mitgemacht. Und sie haben auch weiter erzählt: Das Geschehene wird durch Hass nicht ungeschehen gemacht – ganz im Gegenteil. In dem eigene Gedanken immer wieder darum kreisen, immer wieder über Rache nachgedacht wird, wird man selber immer unfreier. Ich kann das nachvollziehen: Ich kann mein Leben nicht weiterleben, weil der Gedanke an das Unrecht, an die Feinde, an die Rache mich immer mehr bestimmt. So geht es vielen Menschen in Bosnien, auch heute noch, so viele Jahre nach dem Krieg.

Wie kann, wie soll da Vergebung aussehen? Bei einem Schüleraustausch in Bosnien Herzegowina hatten meine Schüler und ich die Gelegenheit den Bischof, zu dessen Bistum unsere Partnerschule gehört, zu treffen. Bischof Komarica hat uns folgendes dazu erzählt, was mich bis heute beeindruckt hat. Menschen die zu ihm kommen, die tief verletzt wurden und über Rache nachdenken, denen rät er, schlicht das zu tun, wozu Jesus aufgefordert hat: Betet für eure Verfolger! (Mt 5,44) Der Bischof hat mir versichert, dass das ungeheure Auswirkungen hat. Es macht die Menschen nicht weniger traurig, dass ihre Angehörigen tot sind, aber das Gefühl von Hass und der Wunsch nach Vergeltung lassen nach. Und was das wichtigste ist: Das eigene Leben wird so endlich freier. Denn, so begründet Bischof Komarica seine Überlegung: Indem ich ständig gedanklich um den Feind kreise, mache ich mich selber unfrei. Vergebung aber macht mich selber frei, frei von dem Zwang nach Vergeltung.

Musik IV

Die Erfahrungen der Menschen in Bosnien-Herzegowina und ihr Ringen um Vergebung sind weit weg. Was bedeutet Vergebung aber in meiner Lebenswirklichkeit – in der Schule? Situationen, in denen Schüler einander schlimme Dinge antun, gibt es ja genug. Immerhin befinden sich jeweils 30 Kinder einen ganzen Vormittag zusammen mit all ihren unterschiedlichen Anliegen, ihrem Drang, sich in der Gruppe gut zu positionieren, ihrem Wunsch nach Anerkennung. Da kommt es nicht nur zu Hänseleien oder zu Beleidigungen, sondern auch manchmal zu Handgreiflichkeiten. Wenn aber die Klasse als Gruppe weiter funktionieren soll, reicht es nicht, einfach nur zu bestrafen. Es muss auch zwischen den betroffenen Kindern etwas in Gang kommen. Sie müssen bereit sein zu vergeben, damit ein Neuanfang möglich ist. Sie aber einfach nur zu zwingen sich die Hand zu reichen und zu sagen: „Entschuldigung!“ Das bringt nicht viel. Ich versuche es manchmal so: Wenn alle, die am Konflikt beteiligt waren, sich ausgesprochen haben und ihre Position darstellen konnten, dann fordere ich die Beteiligten auf, Wünsche an den anderen zu formulieren. Wünsche, wie er, wie sie sich in Zukunft verhalten soll. Und das dürfen alle formulieren, der, der beleidigt wurde und der, der beleidigt hat. In der Regel entsteht dabei ein Klima der Großherzigkeit, das dem anderen ermöglicht, sein Gesicht zu wahren und miteinander einen Neuanfang zu versuchen.

Musik V

Vergebung meint nichts anderes als anderen einen Neuanfang zu ermöglichen und damit letztlich mir selbst einen Neuanfang zu gewähren, weil ich mich selbst so frei mache! Dem anderen vergeben um selbst frei zu werden vom Zwang nach Vergeltung – was für eine Perspektive! Das lässt aufhorchen, aufatmen und fängt im Kleinen an. Einen Tag in dieser Freiheit wünscht Ihnen Hermann-Josef Grünhage aus Duisburg.

Copyright Vorschaubild: butupa CCBY 2.0 flickr.jpg

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