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Das Geistliche Wort | 27.09.2015 | 08:40 Uhr

„Isaak – Gott hat gelacht“

Wenn Bahar, in der Fußgängerzone einer Kleinstadt im Herzen des Ruhrgebietes Frauen mit Kinderwagen sieht, dann wird sie ganz unruhig, geht hinter ihnen her, versucht einen Blick auf das Kind zu werfen und stellt sich die Frage:

„Könnte in diesem Kinderwagen mein Kind liegen?“ Sie weiß, dass sie ihr Kind gar nicht mehr wiedererkennen würde, vier Monate nach der Geburt, aber trotzdem würde sie gerne die junge Mutter, die den Kinderwagen schiebt, fragen: „Du, sag mir, könnte das vielleicht mein Kind sein?“ Aber sie tut es nicht, Bahar schweigt, sie schweigt, weil es ein Geheimnis ist, dass sie vor vier Monaten ein Kind bekommen hat.

Bahar ist ein Pseudonym für eine junge Frau von 20 Jahren, die ihr Kind mit einer „vertraulichen Geburt“ zur Welt gebracht hat.

Musik I

Ich kenne Bahar aus dem Berufskolleg, wo ich Deutsch und Religion unterrichte. Sie ist eine junge Deutsche mit muslimischen Wurzeln. Gleich im ersten Gespräch fiel mir auf, dass eine große Wahrhaftigkeit von ihr ausgeht und sie ein tiefes Mitgefühl für andere hat: Für die anderen, deren Leben aus den Fugen geraten ist. Leben, das aus den Fugen geraten ist, gibt es viel an unserer Schule. Da muss viel getröstet und in den Arm genommen– und manche Fehlstunde entschuldigt werden, weil zu Hause wieder mal eine Katastrophe passiert ist. Bahar versteht sich auf das Erkennen von Traurigkeit und ist eine Meisterin des Tröstens. Jetzt braucht sie selber Trost.

Es passiert eher selten, dass sie fehlt. Aber ich sehe Bahar über eine Woche lang nicht. Niemand weiß, wo sie ist. Dann steht sie vor mir. Bleich und gebückt, sie zittert, bittet um ein Gespräch. Ihr Blick verrät fassungslose Trauer, ihre Worte erreichen mich nur langsam: „Ich habe vor drei Tagen ein Kind bekommen und darum konnte ich nicht in die Schule kommen.“ Es dauert einen Moment, bis ich begreife was das bedeutet. Vorher hatte ich ihr nichts angemerkt von der Schwangerschaft, von den Umständen, ihrem Aussehen. Und jetzt: Was macht sie jetzt in der Schule?! Sie gehört doch zu ihrem Kind?!

Sie hat alles geheim gehalten. Sie ist jetzt zur Schule gekommen, damit niemand Verdacht schöpft; sie ist gekommen, damit alles so aussieht wie immer; sie ist gekommen, obwohl alles, wirklich alles sich in ihrem Leben geändert hat.

Ich als Lehrerin gehöre zu den wenigen, die ihr Geheimnis teilen, sie vertraut mir und hat zugestimmt, dass ich über ihr Schicksal berichte. Sie will es, damit viele Menschen verstehen, die „vertrauliche Geburt“ ist eine Chance für Mutter und Kind – denn diese Mütter lieben ihr Kind – sehr!

Als sie nach unserem Gespräch in den Unterricht geht, strafft sie sich, wischt sich die Augen trocken, lächelt und geht in das Vertraute und doch so unwirkliche reale Leben, dem Klassenzimmer.

Musik II

Es sind Frauen aus allen Gesellschafts- und Bildungsschichten, die bisher den Weg einer anonymen Geburt gewählt haben. Hierbei gibt die Mutter ihre Identität nicht preis. Nicht selten werden die Kinder zu Hause geboren, ganz still, alleine, damit es nicht auffällt, manche von ihnen werden auch ausgesetzt.

Genau hier bietet die „vertrauliche Geburt“ eine Alternative. Seit Mai 2014 gibt es diese Hilfe für Schwangere, die ihre Schwangerschaft geheim halten müssen und ihr Kind nicht behalten können. Dieses Angebot richtet sich an Schwangere in konflikthaften Lebenssituationen, die für die Betroffenen unlösbar erscheinen. So entscheiden sie sich, ihre Schwangerschaft vor dem sozialen Umfeld geheim zu halten.

Eine Frau, die ihr Kind zur Welt bringen möchte, es selbst aber nicht behalten kann, wendet sich an eine ausgewiesene Beratungsstelle. Die Beraterin orientiert sich an der individuellen Lebenssituation der Frau und respektiert deren Entscheidung. Sie begleitet die Schwangere durch die Schwangerschaft, hilft bei der Wahl eines Arztes, der die Vorsorge durchführt, sucht ein Krankenhaus aus, in dem sich Mitarbeiter auf die „vertrauliche Geburt“ eingestellt haben. Und auf Wunsch geht die Beraterin mit zur Entbindung.

Zu Beginn dieses Prozesses wählt die Schwangere ein Pseudonym. Mit diesem neuen Namen werden alle Kontakte hergestellt. Selbst die Beraterin weiß den richtigen Namen nicht. In einem Briefumschlag allerdings wird die wahre Identität der Frau festgehalten. Auf diesem steht auch das Geburtsdatum des Kindes. Wie ein Schatz wird dieser Brief gehütet, er liegt in einem Tresor und wird dem Kind an seinem 16. Geburtstag überreicht. Dem Kind wird dadurch Kenntnis über die eigene Herkunft und über die Hintergründe der schwierigen Lage der Mutter gegeben.

Durch die „vertrauliche Geburt“ wird das Kind davor bewahrt, später einmal in Unwissenheit über seine Abstammung leben zu müssen. Dem Kind ist es dann freigestellt, den Kontakt zu seiner leiblichen Mutter aufzunehmen.

Musik III

Bahar ist von ihrer Schwangerschaft überrascht. Sie sieht das werdende Leben auf dem Monitor des Ultraschallgerätes und kann es nicht fassen: „Ich bekomme ein Kind! Was tue ich jetzt? Wem vertraue ich mich an? Ich schaff das nicht alleine, das Kind und ich, wir werden verstoßen.“ Blitzgedanken, die ihr wohl durch den Kopf gehen im Zustand der Fassungslosigkeit.

Bahar hat den Mut, sich ihrer Mutter anzuvertrauen. Beide wissen, dass Gefahr für das Leben der Mutter und des Kindes droht. – Gedankenexperimente: Abtreibung? Irgendwo in Deutschland ein neues Leben beginnen? Anonym? Schaff ich das alleine, ohne meinen Familienfaden, kann da das Kind glücklich groß werden? Den Vater in die Pflicht nehmen, das geht und will ich nicht. – Eines ist Bahar klar, eine Abtreibung ist undenkbar, Gott hat entschieden, dass es Leben geben soll, dann habe ich kein Recht, das Leben abzulehnen. Schnell wird deutlich, das Kind muss auf die Welt kommen, sein Wohl steht im Vordergrund und nicht das eigene.

Durch die Werbekampagne des Familienministeriums wird ihr eine Perspektive eröffnet. Eine „vertrauliche Geburt“ – beschützt und begleitet während der Schwangerschaft, bei der Geburt und – nach der Geburt wird alles für das Kind getan, damit es unbeschwert heranwachsen kann.

Mutig geht Bahar in eine kirchliche Beratungsstelle ganz in ihrer Nähe. „Ich habe ein solch schlechtes Gewissen, ich werde bestimmt verurteilt, wer sein Kind nicht behalten kann, der hat kein Recht auf eine gute Behandlung.“ – Sie ist überrascht: Da ist eine Beraterin, die versteht ihre Not, sie unterstützt Bahar in ihrer Entscheidung. Da ist sie gut aufgehoben.

Bahar erzählt mir, dass sie das wachsende Leben in sich gespürt hat, sie ihren Bauch gestreichelt und dem Kind versprochen hat: „Ich kann nicht anders, als dich zu lieben, ich werde alles tun, damit du, mein Kind, gesund zur Welt kommst, ich würde dich so gerne in meinen Armen halten, dich liebkosen, dich aufwachsen sehen.“

Der Geburtstermin rückte näher. Bahar hatte versucht, sich emotional auf das vorzubereiten, was sie dann doch mit voller Wucht umgeworfen hat. Sie hörte den Schrei ihres Kindes, die Hebamme zeigte ihr kurz das Kind, ging weg – „Mein Kind, wo ist mein Kind, bitte nur einmal in den Arm nehmen.“ Als ob die Hebamme diesen stummen Schrei gehört hätte, legte sie Bahar ihren Sohn Isaak in den Arm. Fünf Minuten, wunderbare selige Momente, sie wollte ihn in diesem Moment nicht abgeben, nie mehr, Festhalten für immer.

„Ich habe noch nie etwas Schöneres gesehen, noch nie so etwas gefühlt, ich bin dankbar gewesen, das Kind halten zu können, mein ganzes Leben bündelt sich in diesem Augenblick der Begegnung mit Isaak und ich spüre, dass gleich, wenn ich mein Kind abgeben muss, etwas in mir stirbt, ein Teil meines Lebens geht zu Ende. Diese zutiefst gefühlte Verbundenheit, die Sehnsucht, dieses Kind begleiten und zärtlich berühren zu dürfen, alles mitzuerleben, was Mütter erleben dürfen, das darf bei mir nicht sein, dieses Glück ist mir versagt, das ist, wie ich mir Tod vorstelle“, so die junge Mutter.

All ihre Gefühle für das Kind, ihre Sehnsucht nach diesem Kind und die Gründe des doch Weggeben Müssens schreibt sie schließlich in den Brief, den ihr Kind an seinem 16. Lebensjahr überreicht bekommen wird. Isaak wird die Zeilen seiner Mutter lesen und Bahar hält schon jetzt den Atem an: „Wie wird er sich entscheiden, wird er mich sehen wollen, wird er annehmen können, dass ich ihn von Anfang an geliebt habe oder bin ich von ihm verurteilt?“

Musik IV

Bahar hat den Namen ihres Kindes bewusst ausgewählt: Isaak. Isaak – bedeutet so viel wie „Gott lacht“ oder „Gott hat zum Lachen gebracht“! Und diese Namenserklärung hat ihren Ursprung im Alten Testament: Isaak ist der Sohn von Sara und Abraham. Der Isaak von Bahar und der Isaak von Sara sind beides Überraschungskinder. Mit ihnen hatte niemand gerechnet. Das alte Ehepaar Sara und Abraham wünschten sich sehnlichst einen Sohn, der ihr Erbe fortführen kann. Immer wieder gab Gott Abraham die Zusage von Nachkommenschaft. Aber sie warteten vergeblich. Als beide schon so richtig alt waren, bekommen sie Besuch von drei Männern, Gesandte Gottes, die Sara versprachen: „In einem Jahr wirst du einen Sohn haben.“ Sara lachte über diese Zusage, sie konnte es nicht glauben. Und doch, das Versprechen wurde wahr – Isaak wurde geboren – und dass Sara lacht, ist wohl mehr als der Zweifel daran, dass eine alte Frau ein Kind zur Welt bringt. Für mich ist der Name Programm: Gott hat Sara zum Lachen gebracht, weil sie jetzt einen Nachkommen hat. Und: Gott lacht und heißt so das Kind willkommen.

Die biblische Geschichte des Isaak hat für mich noch eine andere Parallele mit dem Isaak von Bahar. Abraham fühlte sich von Gott aufgerufen, diesen langersehnten Sohn zu opfern, als Zeichen seiner Gottestreue. Bei aller Irritation über solch eine Aufforderung vertraut Abraham Gott. Und beginnt seinen Auftrag umzusetzen. Aber es kommt anders: Ein Engel hindert ihn an der Tötung seines Sohnes. Was für ein Glück – Isaak lebt.

Bahar kennt die Geschichte von Saras und Abrahams Isaak genau. Die Wahl dieses Namens ist bewusst überlegt. Auch für sie gilt: Die Treue zum Gott des Lebens hat bei allem Vorrang. Die Mutter hat ihr Kind nicht geopfert, aber die Mutter hat sich aus Liebe für ihren Sohn selbst geopfert.

Bahar lebt in zwei Welten. Da gibt es das alte Leben, das Lachen mit Freundinnen, Unbeschwertheit, der offene Blick in die Zukunft. Und jetzt das geheime, das versiegelte neue Leben. Diese beiden Welten berühren sich nicht – aber vielleicht einmal in 16 oder mehr Jahren, wenn Isaak erfahren kann, wer seine wirkliche Mutter ist. Aber bis dahin wird Bahar immer auch Trauer in sich tragen. Bahar ist tapfer und sagt sich: „Es ist nicht gestattet Trübsal zu blasen, es darf ja keiner wissen, warum ich traurig bin.“ Diese Zerrissenheit lässt sich nicht aufheben.

Und doch gilt auch ihr der Zuruf, der im Namen ihres Sohnes steckt: Isaak – „Gott lacht“ oder „Gott hat zum Lachen gebracht“: Nicht nur ihrem Sohn lacht Gott entgegen, auch ihr selbst denn Gott ist ein Gott des Lebens!

Musik V

Es grüßt Sie herzlich aus Essen Barbara Mikus-Boddenberg

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