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Kirche in WDR 5 | 27.10.2015 | 06:55 Uhr
Darm mit Charme
Guten Morgen!
Unser Gehirn – eine Meisterleistung. Unser Herz – viel gepriesen. Unser Darm – ein Tabu. Geradezu vernachlässigt. Dabei bildet er „zwei Drittel des Immunsystems aus, holt Energie aus Brötchen oder Tofu-Wurst und produziert mehr als zwanzig eigene Hormone.“ (1) So die Medizinwissenschaftlerin Giulia Enders. Ihre Erkenntnis: Der Darm ist mehr, als ein Verdauungsorgan.
Unterhaltsam führt Giulia Enders in ihrem Buch „Darm mit Charme“ in die Welt dieses Wunderwerks der Schöpfung ein. Unglaublich, was der Darm alles leistet, wie er mit dem Gehirn zusammenarbeitet, sogar unsere Gefühle beeinflusst.
Doch von einem unverkrampften Umgang mit diesem „Ausnahmeorgan“ wie Giulia Enders den Darm nennt, sind die meisten doch weit entfernt.
Anders meine Oma: „Besser in die weite Welt als in den engen Bauch“, sagte sie, wenn sie im Alltagsgewusel ein paar knatternde Tönchen verlor. „Ist nur Luft“, scherzte sie dann. Allerdings lernten wir Kinder auch: Zu Hause kann das ausnahmsweise passieren, auf keinen Fall aber darf das in der Öffentlichkeit geschehen. Da muss der enge Bauch dann eben schmerzen… Außer meiner Oma machte in meiner Kindheit niemand den Darm zum Thema. Unfein. Schickt sich nicht.
Früher war das mal ganz anders. Der Reformator Martin Luther zum Beispiel hatte wie Oma kein Problem mit dem Körper. 1529 bekannte er im Marburger Religionsgespräch:
Sprecher: „Das Wort der Heiligen Schrift sagt zum ersten: Christus hat einen Leib – das glaube ich.“ (2)
Gegen ein weltabgewandtes und leibfeindliches Mönchtum predigte Martin Luther – auch bekannt für seine derben Tischreden - Lust am Leben, Lieben, Essen und Trinken. Scham für die Geräusche, Flüssigkeiten und Ausscheidungen des Körpers, die waren Luther offenbar fremd:
Sprecher: „Wiltu aber den leib darumb verwerffen, das er rotzet, eitert und unrein machet, so stich dir selb den Hals ab(e).“ (3)
Die Oxforder Professorin Lyndal Roper betont in ihrem Essay «Der feiste Doktor» (4):
Sprecher: Diese Derbheit ist bei Luther nicht die Ausnahme, sondern die Regel. `Luthers Körperlichkeit`?`, … `war mit einigen seiner tief greifendsten theologischen Einsichten unauflöslich verbunden.` Sie hat einen zentralen Stellenwert für seine `Ablehnung des Mönchstums und mönchischer Verabscheuung von Sexualität, von Essen und Trinken` gehabt.“
Ich mache mich auf die Suche in der Bibel. Wie haben das denn die biblischen Vorfahren meines Glaubens gesehen? Die Organe spielen in vielen Texten der Bibel eine Rolle. Die jüdischen Vorfahren preisen zum Beispiel das Herz als Sitz der Vernunft und die Kehle, die näfäsch. Die ist zugleich Sitz der menschlichen Seele und damit auch der Gefühle. (5)
In späteren Zeiten rühmen die Menschen das Gehirn – eine Meisterleistung. Wir können denken, lernen, Erfindungen machen. Aber was ist mit dem Darm?
Den finde ich in der Bibel nicht. Was ich in der Bibel finde ist: Wertschätzung und Hochachtung für unseren komplex aufgebauten Körper. Diesen Körper, den ich oft vernachlässige. Obwohl er mich doch unterstützt. Mir unablässig. Signale gibt. Meine Gefühle steuert. Mich darauf aufmerksam macht, wo etwas nicht stimmt in meinem Leben. Meiner Seele Wohnung gibt. Ab und an finde ich, ist es gut mitzusprechen, was meine Vorfahren im Glauben schon vor tausenden Jahren gebetet haben:
Sprecher: „Gott, du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“ (Psalm 139,13ff)
So heißt es in Psalm 139. Ich bin sicher: Hätten die Glaubensvorfahren gewusst, was wir heute wissen: Sie hätten den Darm dabei nicht unerwähnt gelassen. Achten Sie auf Ihren Körper. Achten Sie auf sich. Einen schönen Tag! Übrigens: Samstag ist Reformationstag in der Evangelischen Kirche, an dem wir besonders an Martin Luther denken – unerschrockener Vordenker und Leibfreund! Ihre Pfarrerin Petra Schulze aus Düsseldorf.
Quellen und weiterführende Informationen:
(1) Giulia Enders: Darm mit Charme. Alles über ein unterschätztes Organ mit Illustrationen von Jill Enders, Berlin: Ullstein, 2014, S. 13.
(2) zitiert nach: Hans Mayer: Martin Luther. Leben und Glaube, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1982, S. 181 sowie etwas abgewandelt: „Das Wort sagt, dass Christus einen Körper hat. Das glaube ich“. FAZ 31.01.2012, Martin Luther Die Leibesfülle des feisten Doktors von Jürgen Kaube, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/martin-luther-die-leibesfuelle-des-feisten-doktors-11944004.html
(3) FAZ 31.01.2012, Martin Luther Die Leibesfülle des feisten Doktors von Jürgen Kaube, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/martin-luther-die-leibesfuelle-des-feisten-doktors-11944004.html
Zitiert nach Das XIIII. und XV. Capitel S. Johannis, durch D. Mart. Luth. gepredigt vnd ... von Martin Luther.
„Diese Derbheit ist bei Luther nicht die Ausnahme, sondern die Regel. `Luthers Körperlichkeit`?`, erklärt Roper, `war mit einigen seiner tief greifendsten theologischen Einsichten unauflöslich verbunden.` Sie habe einen zentralen Stellenwert für seine `Ablehnung des Mönchstums und mönchischer Verabscheuung von Sexualität, von Essen und Trinken` gehabt.“
(4) Zitate aus dem Buch der Oxforder Professorin Lyndal Roper und Historikerin «Der feiste Doktor“, Göttingen: Wallstein-Verlag, 2012, 78 Seiten zitiert nach „In Wanst und Würde“, Tagesanzeiger Schweiz, 08.11.2012, 10:36 Uhr, http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/Wanst-und-Wuerde/story/18640298#clicked0.9118485944100524
(5) Kurt Wolff: Anthropologie des Alten Testaments, München: Kaiser, 4., durchgesehene Auflage., 1984.
S. 25 ff napäs (näfäsch) – Kehle, Hals, Seele, Begehren, S. 68ff leb(ab) - Herz – eher ein Organ des Verstehens als des Fühlens, S. 102ff Das innere des Leibes: „Neben dem `Herzen` werden nur wenige innere Organe [im Alten Testament] benannt. Für Lunge, Magen und Därme hat das Alte Testament kein eigenes Wort, jedoch für Leber, Galle und Nieren.“ (S. 103)