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Das Geistliche Wort | 15.11.2015 | 08:40 Uhr

Zeitfenster „Lebenszeit“

Guten Morgen,

Montagmorgen, 1. Stunde, Klasse 10. in der Realschule. Ich betrete den Klassenraum und bin überrascht, was da meine Schülerinnen an die Tafel geschrieben haben: YOLO. Was mir bis dahin noch unbekannt war, erschloss sich mir dann nachmittags mit Hilfe des Internets. YOLO – „You only live once “ – „Du lebst nur einmal“. Die mit der Abkürzung YOLO nett verpackte Information spiegelte die Begeisterung mancher Schülerin für das Lernen wider. Das geht klar an mich: Ich bin Schwester Ancilla und gehöre zum Orden der Augustiner Chorfrauen, die in Paderborn ansässig sind.

Musik I

YOLO – „You only live once “ – „Du lebst nur einmal“.

Dahinter steckt eine bestimmte Lebenseinstellung: Das Genießen steht über allem. Grenzen gilt es zu überschreiten, gleichgültig, ob es mir zuträglich ist oder schadet. YOLO setzt als oberstes Maß das Spaßhaben für jedes Tun und Lassen. Mit hohem Risiko für Leib und Leben wird alles aufs Spiel gesetzt, um den letzten „Kick“ zu kriegen. Erlaubt ist, was den eigenen Lustgewinn erhöht. Das Maßvolle wird abgelehnt, ja geradezu verachtet. Dem Gewöhnlichen und Alltäglichen geht man am besten aus dem Weg. YOLO – ein Aufruf vor allem junger Menschen, alles zu meiden, was einengt. Du lebst ja nur einmal, daher muss hier und jetzt alles aus dem Leben herausgeholt werden, was geht – und es muss Spaß machen.

Ich gebe gern zu, Schule und andere Verpflichtungen besitzen für viele Jugendliche nur einen geringen Spaßfaktor. Mehr Genuss sofort ist sicher anziehender – besonders für jene, die sich YOLO als Lebensmotto wählen.

Wie ist es aber, wenn ich alles sich mir Bietende immer bis zum äußersten ausreize? Wie ist es, wenn ich immer nur den letzten „Kick“ haben muss? Gerate ich dadurch nicht unter einen ständigen Zwang mein Leben immer noch lustvoller, noch greller, noch extravaganter zu gestalten? So ein Zwang kann zur Abhängigkeit führen und permanenten Stress verursachen.

Das auf YOLO verkürzte Lebensgefühl „Du lebst nur einmal“ kann dann mein Leben gänzlich in den Ruin treiben. Denn die Sorge, etwas zu verpassen, ist schon der fatale Widerruf zum Genuss, den ich doch erstrebe.

Noch einmal zurück zu meinen Schülerinnen: Als ich einige Tage später das Thema YOLO aufgriff, erklärten mir einige ihre Sicht vom einmaligen Leben. Sie verstanden unter wirklichem Leben: grenzenlose Freiheit, Exzesse bis zum Abwinken und einen unerschöpflichen Geldbeutel. Das Leben beginnt mit 18 Jahren und endet etwa mit 50.

Schließlich meldete sich doch beherzt eine eher schüchterne Schülerin und holte die andern auf den Boden der Realität zurück und meinte: Das sind doch nur Wolkenkuckucksheime. Woher kommt der unerschöpfliche Geldbeutel. Immerhin, sie sei erst 16 Jahre alt, aber sie fühle sich auch schon lebendig und frei, und das nicht erst seit kurzem. Außerdem: um Genuss zu empfinden muss man auch mal ohne Genuss leben. Das Auf und Ab von Erfolgen und Niederlagen gehört zum Leben eben dazu – ist ganz normal. Zu leben, richtig zu leben, dass lässt sich nicht verschieben und darauf muss man nicht erst warten. Deshalb ist die Zeit jetzt wichtig und kostbar.

Mich hat diese Position der Schülerin sehr beeindruckt, denn auch sie geht davon aus:

„You only live once“ - „Du lebst nur einmal“! Aber sie meint damit nicht den Zwang, alles aus dem Leben herausholen zu müssen. „You only live once“ - „Du lebst nur einmal“ – genau, das ist es!

Weil ich nur einmal lebe, will ich das mir zugedachte Zeitfenster „Lebenszeit“ nicht aufs Spiel setzen und dem Zwang opfern, immer nur das Beste aus dem Leben herauszuholen. Es stimmt doch: Wie jeder Mensch einzigartig ist, so auch jeder Moment des Lebens. Die mir zur Verfügung stehende Zeit ist wertvoll. Keine Stunde, keine Minute lässt sich wiederholen. Wenn „You only live once“ mich darauf aufmerksam macht, mein Leben nicht gedankenlos verstreichen zu lassen, dann hat YOLO etwas sehr positives.

Musik II

Du lebst nur einmal und deshalb ist jeder Moment meines Lebens kostbar. Mit dem Tod schließt sich dann das Zeitfenster, das für mein Leben vorgesehen war.

Die Vorstellung vom Leben als „Zeitfenster“ kann bisweilen auch Druck und Ängste auslösen. Das Zeitfenster zum Beispiel, das mir aufgegeben ist, um ein bestimmtes Maß an Arbeit zu erfüllen. Dann zählt auf einmal, was ein Mensch in einer bestimmten Zeit schaffen kann. Die Leistung steht im Vordergrund. Der Nutzen für den Betrieb und sein Wachstum bestimmen das Soll. Aber was ist, wenn trotz aller Anstrengung das veranschlagte Zeitfenster nicht ausreicht? Zählt dann der Mensch nichts mehr?

Und wie ist es im persönlichen Leben? Vielleicht stelle ich in fortgeschrittenem Alter oder bei ernster Erkrankung fest, wie sich das Zeitfenster meines Lebens mehr und mehr und immer schneller schließt. Mancher Mensch würde für die eigene Lebenszeit dann gern ein weiteres Zeitfenster öffnen, weil er noch so viel erleben, tun, gestalten möchte – aber das ist utopisch.

Besonders wenn ein junger Mensch stirbt, ist es nur schwer zu verstehen, warum es sein Zeitfenster sich so schnell geschlossen hat. Gerade für die Hinterbliebenen manchmal unbegreiflich: Wie viele kleine Kinder trauern am Grab ihrer Mutter, ihres Vaters. Wofür hätten die verstorbenen Eltern nicht noch sorgen müssen?

Und was ist erst mit den Menschen, die durch Kriege und Gewalt, auf der Flucht ihre Liebsten und ihre Heimat verloren haben? Was im Leben konnte nicht eingelöst, und vollendet werden?

Das Herz wehrt sich gegen ein zu kleines Zeitfenster. Der Verstand lehnt sich auf gegen den vermeintlich zu frühen Tod.

Musik III

Auch wenn sich der Verstand gerade gegen einen „zu frühen Tod“ wehrt: Der Tod gehört zum Leben dazu. So erinnert mich der November mit seinen Gedenktagen Allerseelen, Volkstrauertag, Buß- und Bettag und dem Totensonntag daran, wie begrenzt mein Leben hier ist. Seine typischen Merkmale, wie das fallende Laub und die deutlich kürzer werdenden Tage, helfen mir, mich mit dem Abschiednehmen, dem Sterben auseinanderzusetzen.

So gehört seit früher Kindheit für mich ein Besuch des Friedhofs zum Tag von Allerheiligen oder Allerseelen dazu. Das feuchte Laub mit seinem typischen modrigen Geruch und auch die umher wirbelnden bunten Blätter bei stürmischem Wetter schaffen mir eine eigene Stimmung. Zahllose Lichter auf vielen Gräbern – besonders bei hereinbrechender Dunkelheit – erzeugen eine anheimelnde Atmosphäre – trotz der Kälte zu dieser Jahreszeit. Ich treffe hier dann häufig Menschen, denen ich sonst das ganze Jahr über nicht begegne. Und was außergewöhnlich ist: jetzt haben sie Zeit. Wir kommen ins Gespräch. Trauer über vielleicht erst kürzlich verstorbene Angehörige wie auch Erinnerungen an sie finden Gehör und haben hier Platz. Hier kann ich einem anderen erzählen, was mir ein Mensch in meinem Leben bedeutet hat.

Um mich herum sind mitunter nur leise, murmelnde Stimmen zu hören. Alles wirkt gedämpft, jedoch keineswegs leblos oder kalt. Es kommt mir vor, als habe der Tod seinen Schrecken verloren – und das gerade hier auf dem Friedhof. Herrschen beim Sterben oder am offenen Grab oft Verzweiflung und Trauer vor, so erfahre ich hier und jetzt etwas anderes: ein tiefer Ernst und Gefasstheit. Ich sehe dann auch oft Menschen, die sich an einem Grab die Hände geben, in den Arm nehmen, einander zuneigen.

Vielleicht trösten sie sich auch damit, dass ein geliebter Mensch doch in ihrer Erinnerung weiterlebt und der Tod nicht das letzte Wort hat.

Und gelegentlich schwingt sogar Zuversicht mit: Da hat es ein Mensch geschafft! Alles Mühen und Sorgen, alle Leiden des Lebens sind vorüber.

Wenn ich einmal gestorben bin, dann hoffe ich, nicht nur in der Erinnerung von Menschen weiterzuleben, sondern darüber hinaus, befreit zu sein von allem, was im Leben beschwerlich war; ich hoffe zu leben, auch wenn ich gestorben bin.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Leben in der Todesstunde endet, angesichts der Einmaligkeit und Kostbarkeit meines Lebens, eines jeden Lebens. Das sollte dann schon alles gewesen sein?

Zweifellos: das Zeitfenster „Lebenszeit“ wird einmal geschlossen. Aber ich setze fest darauf, dann in die zeitlose Ewigkeit Gottes zu gelangen oder wie es in der christlichen Begräbnisfeier heißt: „Deinen Gläubigen, o Herr, wird das Leben gewandelt, nicht genommen,.“1

Musik IV

Wenn in meiner klösterlichen Gemeinschaft eine Mitschwester stirbt, dann bin ich und die gesamte Gemeinschaft unmittelbar mit dem Tod konfrontiert. Das Sterben ist bei uns kein Tabuthema. Aus dem Glauben an die Auferstehung steht für uns fest: Es gibt ein Leben nach dem Tod.

Dennoch ist für mich damit nicht alles klar. Auch mich treiben Fragen um: Wie werde ich selbst einmal die Schwelle an meinem Lebensende überschreiten, wenn sich mein Lebensfenster schließt? Wie ergeht es mir bei diesem Lebens-Wandel? Was wird?

Als hilfreich erlebe ich es, wie wir miteinander über diese Sterbeprozesse reden. Gut ist, eine sterbende Mitschwester zu begleiten, was aber nicht immer möglich ist. Manche Schwester, die im Sterben liegt, kann sehr klar ins Wort fassen, was sie gerade bewegt, was sie ängstigt, was und wen sie ersehnt. Selbst wenn uns auch der Glaube und eine gemeinsame Lebensweise verbinden, jede Schwester stirbt doch anders und für sich.

Wenn eine Mitschwester verstorben ist, versammeln wir uns als Gemeinschaft um sie, wir beten und wir segnen sie, nehmen bewusst Abschied. Dreißig Tage lang stellen wir eine Kerze auf ihren Tischplatz und zünden diese zu den Mahlzeiten an. Diese Rituale richten uns auf, verbinden uns untereinander und stärken uns. Obwohl unsere Gemeinschaft dann hier kleiner wird, so empfinde ich das Sterben nicht als Unglück. Vielmehr geht es mir so:

In der Verbindung zu den Menschen, die bereits heimgerufen wurden, was doch ausdrückt, dass ein Mensch in seiner Heimat angelangt ist, komme auch ich dem Wohnen bei Gott ein bisschen näher.

Ich bin davon überzeugt: Die Perspektive über alle Zeitfenster hinaus hat Jesus allen Menschen geschenkt: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen…Wenn ich gegangen bin und einen Platz für euch vorbereitet habe, komme ich wieder und werde euch zu mir holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin.“2

Musik V

Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag mit bewussten Erfahrungen.

Schwester Ancilla Ernstberger aus dem Michaelskloster in Paderborn

1 Römisches Messbuch, Präfation von den Verstorbenen

2 Joh 14,2a.3

Copyright Vorschaubild: Pixabay

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