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Das Geistliche Wort | 31.01.2016 | 08:35 Uhr

„Hätte Kain die Psalmen gekannt“

Guten Morgen,

Hätte Kain die Psalmen gekannt: wäre dann der Lauf der Geschichte ein anderer gewesen? Wäre weniger Blut geflossen?

Das frage ich mich, liebe Hörerinnen und Hörer, seit ich viele Jahre eine Bibelpastorale Arbeitsstelle mitten in der Altstadt von Jerusalem geleitet habe. Den Nahostkonflikt hatte ich direkt vor der Haustüre. Das hat meine Weise, die Bibel zu verstehen, verändert. Ist dieser Krieg ein Religionskrieg? Ein Krieg der Zivilisationen? Ein Krieg zwischen ‚arm und reich’? Das habe ich mich oft gefragt. Jedenfalls tönt für mich durch diesen Konflikt etwas Archaisches wider, eine Spur, die sich bis in die Zeiten der biblischen Urgeschichten zurückverfolgen lässt.

Für die Bibel ist ein Krieg Mensch gegen Mensch immer ein Bruder-Schwester-Krieg. Und in der Lesart der Bibel geschieht der erste Mord an einem Bruder. Er geschieht genau in eben jener Urgeschichte von Kain, der Abel erschlägt. Für mich ist diese Geschichte eine Schlüsselszene, weil sie mir tiefe Einsichten offenbart über das Zusammenleben, nicht nur zwischenmenschlich, sondern mit Gott.

Um diesen Spuren zu folgen, braucht es eine kritische „Lesebrille“: Denn es geht nicht um die Suche nach historischen Fakten – dazu wurden diese Geschichten nicht verfasst. Die Urerzählungen der Bibel offenbaren erzählerisch auf ihre Art Wahrheiten. Und die liegen auf einer tieferen Ebene als das rein Faktische. Wer diese Lesart für sich entdeckt, findet im ersten Buch Mose abgründige Wahrheiten – nicht nur über den Menschen, sondern auch über Gott. Denn: Gott trägt Mit- Verantwortung an diesem ersten Mord. Wegen eines nicht beachteten Opfers. Wegen einer göttlichen Bevorzugung. Nun gibt es das in jeder Familie: Ein Kind fühlt sich übergangen, zurückgesetzt. „Ja, du! Du kannst dir bei Vater, bei Mutter alles leisten!“ So tönt es immer wieder durch Familien. Kains Geschichte zeigt: Offensichtlich will eine Gleichbehandlung auch Gott, dem „Großen-Vater“, nicht gelingen. Wo bleibt seine Gerechtigkeit? Eine im Paradies nicht offenbar gewordene Seite Gottes, nennen wir sie die „dunkle Seite“, wird jetzt sichtbar. Rätselhaft und verwirrend.

Musik 1

Der erste Mord hat seinen Ausgangspunkt in einer religiösen Symbolhandlung. So deutet es jedenfalls die Bibel. Der Auslöser zu diesem tödlichen Konflikt ist ein von Gott übersehenes Opfer. Kain erschlägt seinen Bruder Abel, weil Gott Kains Opfergabe nicht anschaut. Der erste Brudermord, Menschenmord, hat seine Ursache in einer unverständlichen und eigenwilligen Gottesentscheidung. So mischt sich in den „normalen“ Geschwisterstreit auch noch die Religion.

Religion ist, wie vieles andere, ein Ergebnis von Paradiesverlust. Sie ist Folge verlorener Sicherheit. Kain und Abel sind - in der Bildsprache der Bibel - die Söhne von Adam und Eva. Sie sind die erste Generation, die jenseits von Eden lebt. Aber der Mensch, so lese ich diese Erzählung, traut außerhalb des Paradieses seinem Gott nicht (mehr) über den Weg. Ist das Opfer-Bringen Gottesfurcht? Eher Gottesbesänftigung. Weil der Mensch außerhalb von Eden Angst vor Gott hat? Gott antwortet sehr willkürlich auf die Opfer der Brüder: „Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht“, heißt es im 4.Kapitel des 1.Mosebuches.. Warum? Alle Versuche, die Schuld allein bei Kain zu suchen, etwa in seinem Unglauben, gehen fehl (vgl. Hebr 11,4). Kain war nicht weniger gottesfürchtig als sein Bruder. Er tat das gleiche, das auch Abel tat: Er opferte das Beste. Die Frage richtet sich also zuerst an Gott: Warum bevorzugt er Abel? Dass es gerade Kain getroffen hat, ist im Geheimnis der dunklen, unberechenbaren Seite Gottes verborgen. Es ist so, sagt der biblische Erzähler. Der Mensch hat sich damit abzufinden: Gott macht offenbar, was ER will. Ist der biblische Gott also ein Despot? Der Mensch hat nicht hinüber zu schielen mit der Frage: Wie gehst Du, Gott, mit dem Nachbarn, dem anderen um? Lag darin etwa eine Sünde Kains, dass er den Blick von seinem Opfer weg auf das Opfer des Bruders richtete? Wäre er bei sich geblieben, hätte er gar nicht bemerkt, was dort vor sich ging. Ließ ihn nicht der Seitenblick erstarren? Ähnlich wie der neidische Seitenblick bei Erbschaften, der so viele Prozesse auslöst, so viele Familien gegeneinander treibt? Oder der neidische, höchst verständliche Seitenblick in der Klinik: Warum wird die Zimmernachbarin geheilt entlassen, und warum ich habe einen schlechten Befund?

Ahnt Gott die kommende Katastrophe? Warum greift er aber dann nicht sofort ein? Warum lässt er Kain voll ins „göttliche Messer“ laufen. Rätselhaft.

Musik 2

Nachdem Gott das Opfer Abels bevorzugt und Kains Opfer missachtet, bringt Kain Abel um. Aber die Genesiserzählung berichtet im 4. Kapitel etwas Bemerkenswertes: dazwischen findet ein Gesprächangebot Gottes statt! Gott spricht Kain schon vor dem Brudermord an. Warnt ihn. Kain, den es ganz heiß überläuft und dessen Blick sich senkt. Warum spricht Gott ihn an? Hat er plötzlich ein „schlechtes Gewissen“? Reut ihn seine Bevorzugung? (Die Bibel spricht häufiger von der „Reue“ Gottes.) Auch Gott muss offenbar „lernen“, mit der neuen Situation außerhalb des Paradieses umzugehen. Gottes Bevorzugung von Abel sät den Keim der Rivalität zwischen den Geschwistern. Plötzlich steht die Frage im Raum: Wer hat das bessere Opfer?

Die Entscheidung Gottes für das Opfer des einen und gegen das Opfer des anderen ist das die Geburtsstunde der Religions-Kriege, die hier erzählt wird?

Es ist ein „Geschwisterstreit“, sagt der biblische Text. Jeder „baut“ seinen Altar. Und Gott fördert durch seine Bevorzugung die Uneinigkeit, ja die Wut Kains. Er vertieft sie durch sein rätselhaftes Verhalten.

Dass Kain den Bruder umbringt, ist eine Ersatzhandlung. Dieser Begriff stammt aus der Psychoanalyse, aber er passt genau: Die Wut Kains gilt eigentlich Gott, nicht Abel. Aber Gott gegenüber glaubt Kain sich nicht stark genug. Also vermeidet er die Konfrontation mit Gott und leitet seine Aggression gegen den Bruder und tötet ihn.

Musik 3

Das Gespräch, das Gott mit Kain nach der Katastrophe des Mordes führt, ist der verspätete Anfang eines Dialogs. Die Gesprächsverweigerung Kains kostete Abel das Leben. Wäre es zu diesem Gespräch unmittelbar nach Gottes Willkürakt gekommen, hätte der Mord verhindert werden können. Und damit auch das Auseinanderfallen der Religionen.

Übrigens erzählt die Genesisgeschichte an späterer Stelle, im 32. Kapitel, von einer ganz anderen Lösung im Bruderstreit: Im großen Konflikt zwischen dem Erzvater Jakob mit seinem Bruder Esau kommt es zu einer entscheidenden Szene:

Eine Nacht lang, so heißt es, ringt Jakob mit einem dunklen Dämon, bis der sich im Morgenlicht als der Gott seiner Mütter und Väter zeigt. In den biblischen Erzählungen war Jakob der Erste, der sich Gott gegenüber zur Wehr setzte. Und - sein Protest hatte Erfolg.

Weil Jakob sich der Auseinandersetzung mit Gott stellte, gibt es in seiner Geschichte keinen Brudermord. In friedlicher Distanz werden Esau und Jakob hinfort neben- und hintereinander leben (vgl. Gen 32 -33.; bes. 32, 23-33). Und Gott ist einverstanden - und begleitet hinfort beider Lebensweg.

Musik 4

Hätte Kain mit Gott ringen können wie der biblische Erzvater Jakob, vielleicht wäre die Geschichte anders ausgegangen. Aber erst schrittweise entwickeln die biblischen Erzählungen eine Kultur des Ringens mit Gott. Die Dichtung Israels hat beeindruckende Sprachzeugnisse vom Ringen des Menschen mit seinem Gott in den Psalmen. Sie zeigen, zu welch sprachlicher und spiritueller Kreativität der Gott-Menschen-Konflikt führen kann. Auf Seiten des Menschen entsteht eine „Streitkultur des Betens“. Beide, Gott und Mensch, schonen sich darin nicht: „Kehre dich her, JHWE, reiße mich heraus, schaff mir Heil ob deiner Bundeshuld! Denn im Todesreich rühmt dich niemand, in der Unterwelt, wer lobpreist dich da?“, heißt es im sechsten Psalm. ( Ps 6, 5-6 )

Das ist fortan der Ruf des Menschen in seiner Not. Gott wird erinnert an seine Versprechen. Hätte Kain schon die „Sprachhilfe“ der Protest-Psalmen benutzt, hätte es nicht zum Brudermord kommen müssen. Gott hätte dann seine Einseitigkeit begründen müssen.

Der erste Mord war - nach biblischen Sicht - das Ergebnis eines verweigerten Dialogs. Und vielleicht liegt darin die Wurzel jedes Religionskonfliktes. Denn schon bei Kain und Abel wird die Gott-Frage zur Streit-Frage: Wer hat das höhere Ansehen Gottes? Wer hat die gottgefälligere Gabe? Jede Religion will natürlich der Gottheit gefallen. Für die Menschheit ist dieses Verständnis von Religion eine Katastrophe. Sie wird auch in Zukunft noch viele Opfer kosten wird. Um Gottes willen?

Ehe Gott und Mensch einmal gemeinsam „das zweite Paradies“ betreten, wie das letzte Buch der christlichen Bibel hofft, tobt ein Geschwister-Krieg der Religionen. Er ist eine Geschichte der verweigerten Dialoge mit Gott und vor allem untereinander. Die Bibel will uns in vielen ihrer Erzählungen zum Dialog ermutigen, auch wenn es ein Streitgespräch mit Gott und untereinander ist. Sie ist überzeugt, dass dadurch Leben gerettet wird.

Das gilt natürlich und vor allem für religiöse Streitgespräche unter Menschen, selbst wenn sie offiziell der gleichen Religion angehören. Solche Gespräche sind keine Katastrophe, sondern – wie die Kain-und Abel Erzählung zeigt – absolut notwendig. Denn wenn wir eine gute Streit-Kultur entwickeln, sind wir bei Gott und immer noch „bei Trost“. Und retten Leben. –

Ich bin Pfarrer Wilhelm Bruners aus Mönchengladbach und wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag.

Copyright Vorschaubild:Kain_und_Abel Ludwig Müller Rote Fingur CC 3.0 wikipedia

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