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Fremde Heimat

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Das Geistliche Wort | 12.06.2016 | 08:35 Uhr

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Fremde Heimat

Autorin: Vor einigen Jahren besuchte ich nach langer Zeit mal wieder den Ort meiner Kindheit:

Meine alte Heimat in Ostwestfalen. Vor der Abreise dachte ich nach, was ich alles anschauen wollte. Das Haus und den Garten, in dem meine Eltern mit uns Kindern in den 60er Jahren wohnten... - die hatte ich noch lebhaft vor Augen. Anderes hatte ich mir anhand der Fotos im Familienalbum wieder in Erinnerung gerufen. Die große alte Kastanie zum Beispiel, unter der ich immer mit meinen Puppen gespielt hatte. Dann ging´s los - hundertfünfzig Kilometer gen Osten.

Schließlich war ich da. Stieg aus dem Auto, schaute mich um. Alles, nein ich muss sagen, fast alles war anders. Manche Häuser abgerissen, neue aufgebaut, Straßen waren verlegt worden. Den Bach und die wilden Wiesen, auf denen wir getobt hatten, gab es nicht mehr. Alles war schön gemacht. Zäune rahmten die Grundstücke, Autos parkten in den dafür vorgesehenen Parkbuchten. Auch mein Elternhaus war modern verkleidet worden und ... ich kannte dort keinen Menschen mehr.

In meiner Heimat fühlte ich mich wider Erwarten fremd und heimatlos.

Heimat - was ist das eigentlich - habe ich mich seitdem immer wieder gefragt.

Ist Heimat vielleicht etwas, was es in Reinform so gar nicht gibt? Ist es vor allem eine Sehnsucht? Eine Illusion? Eine Sehnsucht nach einem Ort, wo ich rundherum geborgen bin? Ein Ort, an dem mir nichts fremd und alles vertraut ist, jedes Geräusch, jeder Geruch, jede Form, jede Farbe?

Musik 1: Herbert Grönemeyer: Bochum

Tief im westen,

wo die sonne verstaubt

ist es besser,

viel besser, als man glaubt

tief im westen

Du bist keine schönheit

vor arbeit ganz grau

du liebst dich ohne schminke

bist 'ne ehrliche haut

leider total verbaut

aber grade das macht dich aus

du hast'npulsschlag aus stahl

man hört ihn laut in der nacht

du bist einfach zu bescheiden

dein grubengold

hat uns wieder hochgeholt

du blume im revier

bochum

ich komm' aus dir

bochum

ich häng' an dir

glück auf,

bochum

Autorin: Bochum, ich komm aus dir, Bochum, ich häng an dir... - singt Herbert Grönemeyer, der nun schon bald zwanzig Jahre in London lebt. Ein Liebeslied an die Stadt, in der er aufgewachsen ist und lange gewohnt und gearbeitet hat. An der sein Herz hängt.

Aber was würde Herbert Grönemeyer heute sagen? Ist Bochum noch seine Heimat, bei all dem was sich verändert hat hier? Bei all dem, was er inzwischen mit seiner Familie in London erlebt hat?

Die meisten Deutschen - 92% - empfinden Heimat, wenn sie an ihre Familie, ihre Freunde denken. Der konkrete Ort - zum Beispiel der Geburtsort - ist viel weniger wichtig.

Kaum verwunderlich, dass Menschen ihr Herz nicht so sehr an einen Ort hängen: In meiner Schulzeit bin ich mit meiner Familie bereits drei Mal umgezogen. So geht es immer mehr Kindern. Denn: Viele Berufstätige sind unterwegs in der ganzen Welt. Bekannte von mir haben zwei Wohnungen zum Leben, sind mal hier und dann wieder dort. Menschen wandern ein und wieder aus. So ist das und Wissenschaftler sagen: So wird das vorerst bleiben. Wir sind eine Migrationsgesellschaft, in der die Mehrheit der Menschen nicht mehr an einem Ort dauerhaft sesshaft ist. Wir alle wandern. Die einen mehr, die anderen weniger.

In vielen Geschichten der Bibel ist das ähnlich. Die meisten Menschen darin ziehen umher, wandern aus, wandern ein, werden verschleppt, sind auf der Flucht. Die Bibel ist in weiten Teilen ein Buch von Umherziehenden, von Wanderern, von Migranten. Der christliche Glaube - er formte sich unterwegs, auf der Straße, in der Wüste, in der Fremde, jenseits der vertrauten Gefilde, der sicheren Heimstatt.

Musik 2: Yiruma (Interpret und Komponist (geb. als Lee Ru-ma), Stay in memory, Track 11: The days that'll never come; 2013, Sony Music Entertainment Germany, 88765443862; LC06868

Sprecher: "Gott sprach zu Abraham: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will. - Da zog Abraham aus, wie Gott ihm gesagt hatte.“ (1. Mose 12,1+3)

Autorin: Abraham - er gilt als der Urvater des Volkes Israel, des Volkes Gottes. Im Glauben von Juden, Christen und Muslimen spielt er eine wichtige Rolle. Schon bei ihm geht das los, ganz am Anfang der Bibel. Er wandert aus mit all seinen Lieben. Wird heimat- und schutzlos.

Durchquert das Land und die Wüste und gelangt auf der Flucht vor einer großen Hungersnot bis nach Ägypten. Abraham übersteht Gefahren und Nöte.

Doch warum hatte sich Abraham überhaupt auf den Weg gemacht? Er und seine Frau Sara waren wohlhabend. Nötig hätten sie es ursprünglich nicht gehabt, fortzuziehen. Sie verließen ihre Heimat, weil sie die Stimme Gottes gehört hatten.

Andere Geschichten der Bibel erzählen von Menschen, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen, die nach Krieg und Eroberung verschleppt wurden.

Sprecher:

An den Flüssen Babylons saßen wir und weinten,

jedes Mal, wenn wir an Jerusalem dachten.

2 Unsere Harfen hingen dort an den Weiden;

wir mochten nicht mehr auf ihnen spielen.

3 Doch die Feinde, die uns unterdrückten,

die uns verschleppt hatten aus der Heimat,

verlangten von uns auch noch Jubellieder.

»Singt uns ein Lied von Jerusalem!«, sagten sie.

4 Fern vom Tempel, im fremden Land –

wie konnten wir da Lieder singen zum Lob Gottes?

5 Jerusalem, wenn ich dich je vergesse,

dann soll mir die rechte Hand verdorren!

6 Die Zunge soll mir am Gaumen festwachsen,

wenn ich aufhöre, an dich zu denken,

wenn ich irgendetwas lieber habe,

lieber als dich, Jerusalem!

(Psalm 137, eigene Übersetzung)

Musik 3: Fugees (Interpreten: Wyclef Jean, Lauryn Hill, Pras Michel): The Score, Track 12: No woman, no cry; Sonwriting: Bob Marley, 1996 Sony Music Entertainment, LC 0162, 5099748354921

Autorin: „An den Flüssen Babylons saßen wir und weinten, jedes Mal, wenn wir an Jerusalem dachten.“ Dieses Gebet, dieser Psalm beschreibt die Sehnsucht der Jüdinnen und Juden, die ins Exil nach Babylon verschleppt wurden. Mit Zwang und Gewalt. König Nebukadnezar hatte im Jahr 586 vor Christus Jerusalem erobert. In einem grausamen Krieg war das Land weitgehendverwüstet worden. Jerusalem lag in Schutt und Asche, der Tempel war zerstört. Ein Teil der Bevölkerung musste ins Exil. Ihr Herz ist voller Trauer und Wut. Sie weinen. Ihre Harfen hängen an den Weiden. In der Fremde frohe Lieder zu singen - was für ein Hohn.

Wie schwer es ist, in einem fremden Land neu anzufangen, das haben die verschleppten Jüdinnen und Juden erlebt und viele unserer Mütter und Großmütter, unserer Väter und Großväter auch. Die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, von Gewalt und Todesangst, die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat prägen oftmals das gesamte Leben.

Manche finden in der neuen Heimat nie wieder richtig ins Leben zurück.

Anderen gelingt es, das Schwere zu verarbeiten, vielleicht sogar daran zu reifen und ein neues Leben aufzubauen.

Was hilft dabei? Hilft der Glaube an Gott, der seine Menschenkinder überall auf der Welt stärkt und begleitet? Ich habe schon öfter den Eindruck gehabt. "Wir hatten doch nichts nach dem Krieg. Nur Gottvertrauen", sagte mir mal ein Mann. Sein Haus wurde noch in den letzten Kriegswochen von einer Bombe getroffen."Nur Gottvertrauen hatten wir. Alles andere war uns doch genommen worden."

In der Bibel lese ich mehr darüber. Da passiert dem wandernden Gottesvolk etwas Schönes:

Der Glaube des Volkes Israel wird in der Fremde, in der Ungewissheit tiefer. Unterwegs in der Wüste, in Not und Gefahr, wächst eine Einsicht. Wie schwer das Leben fern der Heimat sein kann- das weiß das Volk Israel und stellt entsprechende Gesetze auf: Fortan sollen die Fremden besonderen Schutz genießen:

Sprecher:"Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken, denn Ihr wisst um der Fremdlinge Herz, weil auch Ihr Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid." (2. Mose 23,9)

Musik 4: Yiruma (Interpret und Komponist), Stay in memory, Track 8: Nocturne Nr. 3 in a Minor; 2013, Sony Music Entertainment Germany, 88765443862; LC06868

Autorin: Fremde genießen besonderen Schutz – ein Gesetz in der Bibel. Eine Aufgabe bis heute. Denn die Zahl der Menschen, die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen, war - seit Ende des zweiten Weltkrieges - noch nie so hoch wie sie jetzt ist. Über 65 Millionen. An jedem Tag verlassen knapp 50.000 Menschen ihre Heimat, die Hälfte davon sind Kinder. Neun von zehn Geflüchteten leben in Entwicklungsländern, in Ländern, die viel ärmer sind als Deutschland oder Frankreich. Doch niemand will sie haben, sie werden hin- und hergeschoben. Die Politiker treffen sich zu Beratungen und immer wieder neuen Gipfeln - ohne durchschlagende Ergebnisse.

Es ist für uns schwer, hier und heute dem Satz der Bibel gerecht zu werden: "Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken, denn Ihr wisst um der Fremdlinge Herz".

Gott sei Dank gibt es hier in Deutschland immer noch viele Menschen, die Woche für Woche Geflüchtete unterstützen. Manche von ihnen haben selbst die Heimat verloren, aber längst nicht alle. Man braucht ja nur ein wenig Feingefühl um zu ahnen, wie schwer es ist, nach Flucht und Vertreibung irgendwo anzukommen. Niemanden zu kennen, kein Heim zu haben, keinen Schutz, keine Geborgenheit. Viele in Deutschland fühlen mit, mit der "Fremdlinge Herz". Sie öffnen sich, lernen hinzu, packen an.

Manchmal denke ich: Vielleicht bauchen nicht nur die Geflüchteten den Zuspruch Gottes, sondern auch ich. Immer dann, wenn ich beginne, den Angstmachern Glauben zu schenken, dass Deutschland das nicht packen könnte, dass der Islam unser Land überschwemmen würde. Vielleicht hilft es mir dann zu wissen: Das Leben aller Menschen ist im Licht Gottes eine Wanderschaft. Von einem Zustand in den anderen – Wachsen und Werden im Bauch der Mutter, geboren werden und aufwachsen, Verantwortung übernehmen undwieder abgeben, alt werden und sterben und dann auferstehen in eine ganz andere, eine unbekannte Welt.

Nichts bleibt, wie es mal war. Die Welt verändert sich, unser Land auch. Veränderungen lösen immer Ängste aus. Aber in all dem gibt Gott Heimat. In aller Unsicherheit kann ich mir dankbar vor Augen halten, was ich habe, wie behütet ich lebe.

Ich kann wie das Volk Israel damals wachsen mit den Veränderungen um mich herum. Reifen, stärker werden in meinem Glauben, in meiner Hoffnung, in meinem Mut: Gott schenkt die Kraft, die ich brauche. Deshalb fürchte ich mich nicht. Deshalb stelle ich mich dieser Aufgabe und packe an. Machen Sie mit?

Es verabschiedet sich von Ihnen Pfarrerin Antje Rösener aus Hattingen.

Musik 5: Yiruma (Interpret und Komponist), Stay in memory, Track 1: Nocturne Nr. 1 in C, Summer Nocturne; 2013, Sony Music Entertainment Germany, 88765443862; LC06868

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