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Das Geistliche Wort | 28.08.2016 | 08:35 Uhr

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"Dritte" Lebenshälfte

„Schön. Jetzt ist die Zeit, wesentlich zu werden“, sagt meine Freundin. Sie hat gerade ihren 63. Geburtstag gefeiert. Als Geburtstagsgeschenk hat sie ein Zeitschriftenabo bekommen. Eine Frauenzeitschrift für die Frau ab 60. Es gibt immer mehr Magazine, die Lust auf die so genannte „dritte“ Lebenshälfte machen - diese geschenkte Zeit, in der wir uns gesund genug fühlen, um noch einmal aufzubrechen. Alter und Gebrechlichkeit – sie scheinen noch weit entfernt. Die Sixties sind interessant geworden - nicht nur für Reiseunternehmen, Architekten und Stadtplaner oder für die Mode- und Kosmetikindustrie. Sondern auch für die Gesellschaft.

Power-Ager nennt man sie auch, diese Generation 60plus. Denn sie sind kraftvoll. Tragen soziale Initiativen und Start up-Unternehmen. Sie machen sich auf die Reise, arbeiten im Ausland als Au pair oder Seniorenberater. Oder entdecken neue Welten im eigenen Land. Sie engagieren sich in der Flüchtlingsarbeit, lernen Menschen aus anderen Ländern und Milieus kennen oder knüpfen neue Netze in der Nachbarschaft – als „Leih-Omas“, Stadtteilmütter oder Mentoren für Schüler, in Familienzentren und Generationenhäusern. Und beinahe zufällig entstehen neue Freundschaften.

„Im Alter neu werden “ – das ist kein frommer Wunsch. Das geht wirklich.

Musik 1: René Aubry (Komponist, Interpret), Plaisirs dámour, Demi Lune, Nr. 7, Arcade, LC 1672, 3040862

„Im Alter neu werden können“ – so hat die Evangelische Kirche in Deutschland eine Denkschrift zum Thema Altern genannt, die sie vor einigen Jahren herausgegeben hat. (1) Es geht darum, wie das Altern gelingen kann. Was ich selbst tun kann, das Alter aktiv zu gestalten. Wer noch ein Drittel des Lebens vor sich hat, der will nicht nur über Seniorenwohnen und Pflegedienste nachdenken und sich mit Testament und Patientenverfügung auseinander setzen – der will Energie schöpfen für eine neue, spannende und herausfordernde Lebensphase. Und diese Energie, die schöpfen manche aus ihrer Spiritualität. Viele denken, Religion habe es vor allem mit Tod und Sterben zu tun und schieben das Thema erst mal weit weg. Nach dem Motto: Kirche, das ist was für alte Leute- und älter werden wir später. Mag sein, dass die Kirche selbst zu dieser Vorstellung beigetragen hat. Jetzt aber lernt sie von den jungen Alten: Das Alter ist auch eine Art Geburt.

Musik 2 = Musik 1

„Kann man denn im Alter noch einmal neu geboren werden?“ Diese Frage treibt Nikodemus um. Er ist ein hoher jüdischer Würdenträger. Heimlich besucht er Jesus in der Nacht, weil die Frage ihm peinlich ist – und doch nicht loslässt. Und Jesus antwortet: „Ja, man kann im Alter noch einmal neu geboren werden.“ Er spricht vom Neuanfang aus dem Geist Gottes.

Und tatsächlich ist die Bibel voll von solchen Neuanfängen. Wahrscheinlich kennen Sie die Geschichte von Abraham und Sara, die in hohem Alter aufbrechen in das Gelobte Land und spät noch den ersehnten Sohn zur Welt bringen – so spät, dass Sara schon allein den Gedanken an eine Schwangerschaft lächerlich findet. 127 Jahre soll sie alt geworden sein - ein legendäres Alter. Aber die Zahl der über 100–Jährigen wächst heute.

Die Geschichte von Sara ist also gar nicht so unwahrscheinlich – es gibt sie, die alternden Frauen, die im Aufbruch noch einmal jung werden. Einem Traum geht Sara nach mit ihrem Abraham. Nachts unter dem Sternenhimmel hat Gott ihm versprochen, dass sie eine neue, eine bessere Zukunft finden würden - und dass ihre Nachkommen so zahlreich sein würden wie die Sterne am Himmel. Dieses Glitzern und Leuchten und Aufblitzen eines neuen Lebens – das hat Sara nie vergessen. Selbstverständlich ist es nicht, dass einer seinen Träumen folgt. Sich auf den Weg macht Schritt für Schritt. Es muss ein schwerer Weg gewesen sein durch die Wüste. Voll Fremdheitserfahrungen, Misstrauen und der Angst, allein gelassen zu werden, zu versagen und sich lächerlich zu machen. Aber Sara hat dem Unwahrscheinlichen eine Chance gegeben. Sie hat Gott eine Chance gegeben.

Musik 3 = Musik 1

Wenn ich etwas ganz Neues beginne, dann muss ich mein Leben so einrichten, dass ich meinen Traum auch verwirklichen kann. Das wurde dem französischen Soziologen Roland Barthes klar, als seine Mutter gestorben war. Bei aller Trauer des Abschieds - in diesem Augenblick begann für ihn ein neues Leben. Er wollte endlich tun, was ihm längst vorschwebte – er wollte einen Roman schreiben. Aber das neue Leben beginnt nicht einfach von selbst; es braucht einen bewussten Entschluss. Man muss den Alltagstrott verlassen, die eigenen Routinen überprüfen. Dem eigenen Leben einen neuen, grundlegenden Inhalt geben. Ich muss innehalten, meine Erfahrungen reflektieren und meinen Hoffnungen trauen.

Es ist kein Zufall, dass viele beim Start in die dritte Lebensphase eine Reise unternehmen oder ein Buch schreiben. Das sind Möglichkeiten, die innere Bewegung im Außen sichtbar und greifbar zu machen. Produktiv zu werden jenseits der sonst üblichen Vorstellungen von Produktivität. Jetzt muss ich nicht mehr effizient sein wie im Beruf oder funktionieren wie in der Familie. In der ersten Lebenshälfte geht es noch darum, ein Heim und eine Familie aufzubauen, ein sicheres Fundament für das Leben. Dann aber besteht die Herausforderung darin, das alles loszulassen und noch einmal frei zu werden. Wer jetzt noch einmal neu startet, will eine andere Produktivität entdecken. Ein neues Lebenstempo, eine andere Kultur, eine Kunst vielleicht, die er bisher nicht beherrscht hat. Vielleicht auch sich einsetzen, damit es anderen gut geht. Wesentlich werden - aber nicht einfach auf den bekannten Kern schrumpfen, sondern einem neuen Samen Raum zum Leben geben. Und dabei kann die Religion, kann die Spiritualität helfen. Lars Tornstam, der in Schweden Untersuchungen zur Spiritualität älterer Menschen durchgeführt hat, spricht von Ego-Transzendenz oder auch von Gero-, also Alters-Transzendenz. Er meint: Das Alter bietet die Chance, sich selbst zu überschreiten. Transzendenz hat es nicht nur mit dem Jenseits zu tun; vielmehr geht es darum, mich grundsätzlich offen zu halten für ganz neue Möglichkeiten.

Klar, dazu gehört die bewusste Auseinandersetzung mit meiner eigenen Begrenztheit und Endlichkeit – nicht erst am Ende des Lebens: Denn wenn ich Angst habe, mich zu verlieren, kann ich weder lieben noch Kinder in die Welt setzen noch überhaupt etwas Neues beginnen. Und am Ende auch nicht sterben. Das Thema Sterblichkeit geht also immer mit.

Wer die Frage nach dem Ende einfach in die so genannte vierte Lebensphase verschiebt, tut sich selbst nichts Gutes. Zu erkennen: Mein Leben ist endlich – und sinnvoll. Mein Leben ist begrenzt - und erfüllt, das lässt uns wesentlich werden. Das ist der wirkliche Gewinn des Alterns. Und das gilt am Ende auch für die vierte Lebensphase, die so genannte Hochaltrigkeit. Eine Studie der Universität Heidelberg zeigt: Bei mehr als Dreiviertel der Befragten zwischen 80 und 99 steht die Todesnähe nicht im Vordergrund. Die meisten freuen sich, wenn sie sich noch für andere Menschen engagieren können und sie beschäftigen sich intensiv mit den Lebenswegen der nachfolgenden Generation – der Enkel und Urenkel zum Beispiel.

Ich erinnere mich daran, wie meine Urgroßtante Hulda auf mich aufpasste, wenn meine Eltern abends unterwegs waren. Sie saß dann mit ihren steifen Beinen - sie hatte Arthritis - auf einem Bänkchen vor meinem Bett und las oder sang mir vor. An einem Abend rutschte sie von diesem Bänkchen herunter und blieb auf dem Boden sitzen – und ich war zu klein, ihr wieder aufzuhelfen. Aber sie hatte Humor. Sie sang auf dem Fußboden das Gesangbuch von vorn bis hinten durch – und ich genoss es. Urgroßtante Huldas Gelassenheit und ihr Gottvertrauen haben mich lange über ihren Tod hinaus getragen. Und als sie mit weit über 80 starb, lag mein nächstes Weihnachtsgeschenk von ihr schon bereit. Für mich ist Tante Hulda ein Beispiel dafür, wie Religion über die Generationen weitergegeben wird – ganz selbstverständlich, als Lebenserfahrung im Alltag und zumeist von den Älteren zu den Jüngeren.

Musik 4: René Aubry (Komponist, Interpret), Track 17 E giunta mezzanotte von CD Now, Label: René Aubry 2015, LC-Nummer: Bestellnummer: 8407922, Copyright (2016), LC-Nr. unbekannt.

Der ehemalige Chefredakteur der Zeitschrift „Psychologie heute“, Heiko Ernst, spricht in diesem Zusammenhang von Generativität. Normalerweise wird der Begriff verwandt, wenn es darum geht, Kinder in die Welt zu setzen - die nächste Generation. Für Heiko Ernst geht es aber um mehr: um das Weitergeben von Erfahrung, die Sorge um die Zukunft. Generativität sei „unser Zukunftssinn“, sagt er. “Wir richten das Denken über die eigene Existenz hinaus. Generativität ist die Fähigkeit, von sich selbst abzusehen, für andere da zu sein und damit die Zukunft zu gestalten.“ (2) Das hängt nicht davon ab, ob wir eigene Kinder in die Welt gebracht haben so wie Sara, die spät noch Mutter wurde.

Ich habe neulich von einer älteren Frau geträumt, die eine große Grünlilie umpflanzte - in viele kleine Blumentöpfchen. Sie wollte die Pflänzchen zu ihrem 80. Geburtstag verschenken - etwas aus ihrem Haus für alle, die ihr lieb sind. Lebendiges Erbe – Sie wissen, Grünlilien schlagen Luftwurzeln und lassen sich ganz leicht in neue Erde verpflanzen. Das ist es dachte ich, was jetzt dran ist: loslassen und weitergeben, damit aus dem Alten Neues wächst auf der neuen Erde.

Abrahams und Saras Kraft zum Aufbruch war so stark, dass sie nicht zurück wollten in die alte Heimat. Als Sara starb, kaufte Abraham ihr ein Grab im neuen Land – es war das erste eigene Stück Boden, auf das die Kinder und Enkel ihre Füße setzten. So wurde ihr Traum von einem neuen Anfang Realität für viele, die nach ihr kamen. Sarah hatte ihr Ziel erreicht. Während ich das sage, merke ich: Es ist gar nicht mehr so selbstverständlich, von einem Lebensziel zu sprechen. Aber auch heute verstehen viele das Leben als Reise.

Musik 5 = Musik 4: Track 17 E giunta mezzanotte von CD Now

Aber was hilft mir, mein Ziel im Auge zu behalten? Als für mich selbst die dritte Lebensphase begann, fiel mir ein Buch mit geistlichen Übungen in die Hand. (3) Es geht um die Offenheit für Gottes Nähe, um die Erfahrung des Einswerdens mit mir selbst, das Ja- Sagen zum Leben. Aber auch um die Gefühle, die uns voneinander und von uns selbst entfremden. Hass, Angst, Wut, Neid und Zweifel schneiden uns von unserer Wesensmitte ab. Wir merken das, wenn unser Alltag sich leblos anfühlt.

Eine der Möglichkeiten, mich zu zentrieren und Gelassenheit und Frieden zu finden, ist das orthodoxe Herzensgebet. Es geht dabei nicht um viele Worte. Schon eine einfache Gebetsformel reicht. Zum Beispiel „Liebe umgibt mich“. Diese Form des Gebets hat viel gemeinsam mit der mystischen Versenkung im Buddhismus. Hier wie da geht es um die Konzentration auf den Atemrhythmus, um Gesten und Gehen. Das kann ich im Alltag üben - beim Aufwachen und Einschlafen wie auch in Pausenzeiten am Bus oder auf dem Fahrrad. Dabei kann ich fühlen, dass Gott mir nah ist.

Auf dem Weg ins Unbekannte ist es gut, sich einfach aus der Erfahrung der Gottesnähe führen zu lassen. (4) Wie Abraham und Sara, die sich im Alter noch einmal aufmachten, um ihrer Hoffnung zu folgen. Ohne zu wissen, wo das gelobte Land lag. Auf ihrem Weg durch die Wüste haben sie Angst und Zweifel reichlich erlebt. Ob Sara in solchen Situationen zu den Sternen gesehen hat? Oder lieber in das Gesicht ihres Sohnes? Manches, was jetzt noch unglaublich scheint, hat vielleicht morgen schon Hand und Fuß. Nehmen Sie sich ruhig ab und an Zeit, Ihre Sterne zu zählen- ich mache das auch. Das wünscht Ihnen Ihre Cornelia Coenen-Marx von der evangelischen Kirche.

Musik 6 = Musik 1

(1) Im Alter neu werden können. Evangelische Perspektiven für Individuum, Gesellschaft und Kirche. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, 2010, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05912-9 .

(2) Heiko Ernst in Psychologie heute, compact, 9/2003.

(3) Sabine Bobert, Mystik und Coaching, Münsterschwarzbach 2011.

(4) Was das in den aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen bedeutet, darum geht es in meinem neuen Buch: Cornelia Coenen-Marx: „Aufbrüche in Umbrüchen, Christsein und Glaube in der Transformation“, Göttingen 2016, ISBN 978- 38469- 0252-3.

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