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Das Geistliche Wort | 06.11.2016 | 08:35 Uhr

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Aktive Gewaltlosigkeit (Tue das Unerwartete!)

Autorin: Euskirchen. Prügelei in der Schule. Es ging nur um ein Kartenspiel. Nur weil sein Mitschüler gewonnen hatte, schlug der 12-Jährige brutal auf ihn ein. Am Ende lag der Mitschüler im Koma: Schädelverletzungen und eine Lungenquetschung. (1) Wir sind schockiert: Wie kann das sein? Wie kommt es, dass ein 12-Jähriger so brutal ist - ohne jedes Mitgefühl und ohne jedes Gefühl für Unrecht. Und wir fragen uns: Was kann man dagegen tun?

O-Ton 1 Markus Parusel-Grotefeld: Gewalt ist ein Kuckuck im Nest der Gefühle. Wenn ich ihn großziehe, dann macht er sich breit, tut weh und wird flügge. (…) und schmeißt die anderen raus. Deswegen sollte ich auf meine Gefühle achtgeben!

Autorin: So beschreibt Markus Parusel-Grotefeld, wie Gewalt wirkt, wie sie Besitz von Personen ergreift und wie sie sich auswirkt. Er ist freiberuflicher Deeskalationstrainer und Lehrtrainer der „Gewalt Akademie Villigst“ im Amt für Jugendarbeit der evangelischen Kirche von Westfalen. (2) Wo ziehe ich Gewalt groß? Wie verhindere ich, dass sie sich in mir und in meinem Umfeld breit macht? Wie schütze ich mich vor diesem Kuckuck? Diesen Fragen möchte ich heute nachgehen.

Die „Gewalt Akademie Villigst“ engagiert sich gegen Gewalt und gegen Rechtes Gedankengut. Sie bildet Deeskalationstrainer und -trainerinnen aus. Sie fragt: Wie entsteht Gewalt? Wie kann ich den Kreislauf der Gewalt unterbrechen? Ganz wichtig zu wissen: Es gibt Gewalt in den Köpfen und Herzen aller Menschen. Niemand ist vollkommen gewaltlos. Jeder und jede ist in Gewalt verstrickt und muss für sich selbst klären: Wie gehe ich damit um? Wie kann ich mich der Gewalt entgegenstellen? Wie gebe ich friedfertigen Gefühlen in mir Raum.

Noch einmal Markus Parusel-Grotefeld:

O-Ton 2 Markus Parusel-Grotefeld: Ich kam zur „Gewalt Akademie“ und wusste gar nicht, was mich so erwartet und es war vom ersten Augenblick an sehr, sehr überzeugend. Also, ich hab ganz viel Stoff zum Nachdenken bekommen, und im Nachdenken über Gewalt lerne ich mich kennen und das habe ich vom ersten Augenblick an geschätzt, also ganz viel Selbsterfahrung gemacht und persönliches Wachstum und Werte, ganz viel Werte.

Autorin: Alle Trainer und Trainerinnen der „Gewalt Akademie Villigst“ setzen sich zunächst selbst mit dem Thema auseinander und gehen dann in Schulen, Kindergärten und Jugendgruppen. Und dort erarbeiten sie mit Kindern und Jugendlichen Antworten auf die Fragen: Was ist für mich Gewalt? Wie kann ich Gewalt stoppen - die Gewalt, die ich auf der Straße sehe oder auf dem Schulhof, aber auch die Gewalt in meinem eigenen Kopf und Herzen. Was ist uns als Klasse oder Gruppe wichtig? Was soll bei uns gelten und welchen Werten fühlen wir uns verpflichtet? Und was sind wir bereit, dafür einzusetzen? Mit Übungen und Spielen finden die Kinder und Jugendlichen ihre eigenen Antworten.

Ein Klassiker aus dem Deeskalationstraining ist das Elefantenspiel: Lehrerin und Deeskalationstrainerin Britta Frenssen hat die Klasse aufgeteilt. Fünf Schüler schlüpfen in die Rolle der Elefantenjäger, der Rest der Klasse spielt die Herde.

Aufgabe der Herde ist es zusammenzuhalten. Solange die Elefanten körperlich verbunden sind, sind sie sicher. Sie kauern sich aneinander und haken sich beieinander ein. Die Elefantenjäger sollen einzelne Elefanten fangen, also isolieren - herauslösen.

O-Ton 3 Britta Frenssen: Und da gibt es unterschiedliche Herangehensweisen von Gruppen, die ich erlebt habe, die gesagt haben: „Das machen wir nicht“ bis zu „Wir sprechen mit ihnen, wir kitzeln sie“, aber auch “Wir ziehen mal ein bisschen und gucken, ob wir da so Verbindungen von Armen und Beinen lösen können mit mehr oder weniger Aufwand (…).

Autorin: Manchmal ist es dann eher die eigene Herde, die einen hält und nicht raus lassen will, die einem mehr weh tut als die Jäger. Die Schüler merken dann: Eigentlich wollte ich den anderen aus meiner Herde, der von den Jägern bedrängt wurde, nur festhalten. Aber das hat sich für den dann auch wie Gewalt angefühlt.

O-Ton 4 Britta Frenssen: Und das eignet sich für mich besonders gut, um darüber zu sprechen in der anschließenden Reflexion, was genau passiert ist und auch die Frage zu stellen: War da Gewalt im Spiel?

Autorin: Und die Elefantenjäger merken: Wenn ich etwas erreichen will, greife ich doch manchmal zu Gewalt, weil ich glaube, dass ich damit schneller zum Ziel komme. Meist kommen die Schüler dann zu der Erkenntnis: Keiner von uns ist gewaltfrei. Man muss sich aktiv bemühen, keine Gewalt anzuwenden. Aber – was ist eigentlich Gewalt? Britta Frenssen gibt eine einfache Definition:

O-Ton 5 Britta Frenssen: Gewalt tut weh! Und das kann körperlich sein, es kann auch – wie kleine Kinder sagen würden – „am Herzen weh tun“ und damit – denke ich - kann auch jeder, dem etwas weh tut, also, der Gewalt erfahren hat, das auch zum Thema machen.

Musik 1:

Salento, von CD: Plaisirs d`Amour, Komponist und Interpret: René Aubry, weiterer Interpret: Christophe Guiot (Violine)

Autorin: Auf Gewalt nicht mit Gegengewalt reagieren. Das ist ganz schön schwer, haben die Schülerinnen und Schüler gelernt. Andererseits: Ich will mich der Gewalt auch nicht unterwerfen und damit zum Opfer von Gewalt oder zu deren Handlanger werden. Die Deeskalationstrainer zeigen, wie man aktiv und gewaltlos gegen Gewalt eintreten kann. Ziel der „Gewalt Akademie“ ist deshalb „Aktive Gewaltlosigkeit“. Das verbindet Gewaltlosigkeit mit Zivilcourage. Dazu noch einmal Trainer Markus Parusel-Grotefeld:

O-Ton 6 Markus Parusel-Grotefeld: Hannah Arendt, die hat sich mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus beschäftigt und die hat eine weitere Dimension des Bösen erkannt: nämlich die Gleichgültigkeit des Nicht-Wissen-Wollens, (…) und das hat sie dann als Banalität des Bösen bezeichnet. Und das ist die Weigerung, das eigene Tun und das Nicht-tun im Zusammenhang zu sehen. (...)Und da fängt es nämlich an, das heißt wenn ich bei Gewalt wegsehe, dann diene ich der Banalität des Bösen.

Autorin: Deswegen ist es wichtig, dass ich mich einmische, wenn ich Gewalt sehe, dass ich nicht wegschaue. Manchmal heißt das auch: klug handeln, den Selbstschutz nicht vergessen, das Unerwartete tun. Und das muss durchdacht und trainiert werden. Britta Frenssen:

O-Ton 7 Britta Frenssen: Wenn da zwei mit dem Baseballschläger sind, dann kann ich nicht dazwischen gehen, aber ich kann aktiv werden, die Polizei rufen, Menschen, die mit rumstehen, aktivieren, dass sie nicht weggucken. Ich könnte mein Handy rausholen, filmen, Fotos machen, um die Polizei zu unterstützen, die dann sicherlich noch einen Moment braucht.

Musik 2:

Trou de memoire von CD: Plaisirs d`Amour, Komponist und Interpret: René Aubry

Autorin: Einer, der sich der Gewalt entgegengestellt hat, ist Mahatma Gandhi. Er war Hinduist und hat auf dem Hintergrund seines Glaubens eine Ethik entwickelt. Die ruht auf zwei Säulen: Satyagraha – das ist das lebenslange Ringen um Wahrhaftigkeit meines Tuns. Und das ist ein Ringen, in dem ich wieder scheitere und genötigt bin, wieder neu anzufangen. Die zweite Säule ist Ahimsa. Das ist ein altes Sanskritwort. Das „A“ steht für: „Etwas ist nicht da!“ und „Himsa“ steht für Gewalt, Brand, Vernichtung. Ahimsa könnte man mit Gewaltlosigkeit übersetzen. Gandhi sagt: Ahimsa meint: Spirit of Nonviolence: Geist des Nicht-Verletzens. Der Journalistikprofessor Claus Eurich aus Dortmund beschreibt das so:

Sprecher: Das bedeutet nicht nur gewaltlos zu kommunizieren, sondern gewaltlos zu denken: lernen, gewaltlos zu empfinden. Und für Mahatma Gandhi war das nun wichtig, dass er diese Ahimsa übertragen hat auf alles Leben ohne Unterschiede – ohne Unterschiede, dann aber die Menschen auch entlastet hat. Er hat in seiner Autobiographie geschrieben: Wir können nicht leben, ohne zu verletzen. Der Brand der Himsa, der Brand der Gewalt ist immer um uns herum. Und dann kommen wir zum Schlüsselsatz der Ethik, worum es geht: Es geht darum, nicht willentlich anderem Leben Schaden zuzufügen.

Autorin: Also einzutreten für das Leben, Leben zu schützen, wo immer es geht, ohne selbst gewalttätig zu werden - ohne den Kuckuck großzuziehen, der sich Gewalt nennt. Das kann eine Grundlage aller ethischen Überlegungen in Religion und Philosophie sein. Auch die christliche Ethik kennt die aktive Gewaltlosigkeit. Sie findet sich schon bei Jesus in der Bergpredigt. Dort sagt er:

Sprecher: Ihr habt gehört, dass gesagt ist “Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar. … Und wenn dich jemand nötigt eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. (Matthäus 5,38f, siehe auch Lukas 6,29)

Autorin: Die andere, die linke Wange hinhalten. Heißt das passiv und unterwürfig zu sein? Und die zweite Meile Mitgehen: Meint das: „etwas mehr tun“, als vom Unterdrücker gefordert. Heißt das, ich soll mit den Unterdrückern zusammenarbeiten? Vom Theologen Walter Wink (3) habe ich gelernt: Tatsächlich lehrt Jesus nicht, sich dem Bösen zu unterwerfen. Stattdessen lehrt er: Du sollst das Böse nicht mit den gleichen Mitteln bekämpfen, die es gegen dich anwendet. Sondern eher mit Überraschungseffekten.

„Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere, die linke Wange hin“ zum Beispiel. Was das genau heißt, kann ich nur verstehen, wenn ich mir das ganz konkret vorstelle. Zu Jesu Zeiten wie auch heute waren die meisten Leute Rechtshänder. Wenn sie geschlagen haben, dann also mit Rechts. Um aber mit Rechts die rechte Wange des Gegenübers zu treffen, muss man mit dem Handrücken zuschlagen. Der Schlag mit dem Handrücken war zu Jesu Zeiten der Schlag, mit dem man jemanden zurechtweisen oder demütigen wollte. Ein Kampf unter Gleichen sieht anders aus. Im Kampf schlägt man mit der Handinnenfläche oder der Faust. Da hat man mehr Kraft. So schlägt man, wenn jemand gleichgestellt ist – ebenbürtig. Wenn Jesus also fordert, wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die linke hin, heißt das:

Ich nötige den anderen, mich als gleichberechtigten Gegner ernst zu nehmen. Und bleibe damit nicht in der Rolle des Gedemütigten.

Mit der zweiten Meile verhält es sich genauso. Die römischen Soldaten zur Zeit Jesu durften Unterdrückte zwingen, ihr schweres Gepäck eine Meile lang zu tragen. Trägt der Unterdrückte das Gepäck eine zweite Meile, riskiert der Soldat eine Disziplinarstrafe. Jetzt muss er sein Gepäck zurückbitten, um der Strafe zu entgehen. In beiden Fällen – bei der linken Wange und bei der zweiten Meile - hat der Erniedrigte verhindert, dass er gewaltsam kleingemacht wird. Und das, ganz ohne selbst Gewalt anzuwenden. Er hat gewaltlos und gewitzt Widerstand geleistet. Dazu fordert Jesus in der Bergpredigt auf. Gewaltlos handeln heißt zuerst: jede Zusammenarbeit mit denen zu verweigern, die mich erniedrigen. So hat es Mahatma Gandhi formuliert.

Noch einmal Markus Parusel-Grotefeld:

O-Ton 8 Markus Parusel-Grotefeld: Und deswegen ist es wichtig, dass ich – ja – mich einmische, dass ich meine Stimme erhebe, wenn ich Gewalt sehe, und eben nicht wegschaue und sagen: Das ist die Sache der Anderen, sondern: Das ist meine Sache, weil das eine mit dem anderen zu tun hat.

Autorin: Diesen Mut wünsche ich mir und Ihnen: den Mut, aktiv gegen Gewalt einzutreten, die kalt und krank macht. Gewitzt und beherzt. Wenn ich selbst Gewalt ausgesetzt bin und wenn ich sehe, dass anderen Gewalt geschieht. Und ich wünsche mir die Besonnenheit, das so zu tun, dass ich mich selbst und andere nicht unnötig gefährde. Das Schwierigste ist es wohl: den Mut zu haben, Gewalt aus dem Nest der eigenen Gefühle zu verbannen, damit dort Liebe und Wertschätzung wieder ihren Platz bekommen.

Ich verabschiede mich von Ihnen. Mein Name ist Sabine Haupt-Scherer, ich bin Pfarrerin im Amt für Jugendarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen und wohne in Bielefeld.

Musik 3:

Blowin´ in the wind von CD The Best of Bob Dylan, Komponist: traditionell / Gospel, Text: Bob Dylan (1962), Interpret: Bob Dylan

( 1 ) http://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/neuer-zeuge-100.html

( 2 ) http://www.gewaltakademie.de/index.php?id=3

( 3 ) Walter Wink: Verwandlung der Mächte Eine Theologie der Gewaltfreiheit. Regensburg 2014.

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