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Das Geistliche Wort | 26.01.2014 | 08:40 Uhr

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Zukunft braucht ein langes Gedächtnis

Sprecherin: „Das beste Stück Brot meines Lebens war dieser alte, trockene Kanten Graubrot. Auch wenn ich später noch viele Brote aß, die eigentlich viel leckerer schmeckten.“

Autorin: Die hellblauen Augen der alten Dame leuchten. Sie erzählt mir, wie eine völlig fremde Frau ihr, der 14-Jährigen, ein Stück Brot geschenkt hat. Damals, im Winter 1945, als ihre Familie aus Ostpreußen fliehen musste.

Sprecherin: „Wir konnten in ihrer Scheune übernachten und sie brachte uns einen halben Laib Brot, ich sehe ihn noch in ihrer Hand. Nie werde ich das vergessen. Dieses Brot nährt mich bis heute. Anderes aus dieser Zeit würde ich lieber aus meinem Gedächtnis streichen.“

Autorin: Ihr Blick verdunkelt sich und sie sagt für eine Weile nichts mehr.

Ihr Haus steht in Hagen, in einer Siedlung aus den sechziger Jahren. Hier wohnten größtenteils Menschen, die 1945 aus Schlesien oder Ostpreußen geflohen sind. Und hier habe ich als Pfarrerin bei meinen Hausbesuchen viele Erinnerungen an die Flucht gehört.

Einen Ehrenplatz im Gedächtnis der Flüchtlinge haben Momente, in denen ihnen jemand geholfen hat: Da gab ihnen eine Frau zu Essen oder ein Wagen tauchte unerwartet auf und der Kutscher ließ sie aufsteigen. Was für eine Wohltat für die geschundenen, verfrorenen Füße.

Woran erinnern wir uns? Und was würden wir lieber vergessen? Darüber möchte ich heute mit Ihnen nachdenken, liebe Hörerin, lieber Hörer. Mein Name ist Gudrun Mawick. Ich bin Pfarrerin an der westfälischen Arbeitsstelle für Gottesdienst und Kirchenmusik in Schwerte-Villigst.

1. Musik: Track 5a Oyf Eylik Unser Leben von CD Giora Feidman (Interpret) featuring NDR Chor. Leitung des Chores: Werner Hagen, Komponist: unknown/ unbekannt, 1995 Verlag „pläne“ GmbH Dortmund, Eine Co-Produktion mit dem NDR, LC 0972.

Autorin: Morgen werden die Flaggen an allen offiziellen Gebäuden bei uns auf Halbmast wehen. Der deutsche Bundestag begeht den „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ mit einer Gedenkstunde. Denn am 27. Januar 1945 befreiten russische Soldaten die Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Die grauenhaften Bilder davon gingen um die Welt.

Nach und nach kam das Ausmaß der Gräuel ans Licht. Den Überlebenden, die über das Erlebte sprechen konnten, wollte in Deutschland niemand zuhören. Erst Jahrzehnte später fanden sie hier Gehör. Bis heute halten die Erinnerungen der Holocaustüberlebenden das Entsetzen über die Gräueltaten im Nationalsozialismus wach.

Leider nicht überall. Denn: Jeder fünfte Erwachsene unter 30 Jahren in Deutschland kann mit dem Wort „Auschwitz“ nichts mehr anfangen. Vergessen die Deutschen, was im Nationalsozialismus geschah?

Andere gibt es dagegen, die es nicht mehr hören können und wollen: Sie möchten, dass nun Schluss ist. Schluss mit dem ewigen Gedenken an die dunkelste deutsche Geschichte. Was geht uns das heute noch an – wir Nachgeborenen haben doch nichts mehr damit zu tun. Sie meinen, dass ein fortgesetztes Erinnern nur belastet, aber nichts Gutes für die Zukunft bewirkt.

So wird gestritten um die Einrichtung von Gedenktagen und –orten, um ein Zuviel oder Zuwenig des Erinnerns. Wann und aus welchem Anlass sollte es einen bundesweiten Feier- und Gedenktag geben? Dazu gab es im vergangenen Herbst eine Umfrage (1), bei der ein Tag ausgewählt werden konnte. Für den internationalen Holocaustgedenktag am 27. Januar entschied sich jeder Fünfte der Befragten. Viel oder wenig? Immerhin: Gerade die jüngeren Deutschen zeigten sich hier besonders interessiert: Von den 14- bis 29-Jährigen will ein Drittel, dass der Holocausttag Feiertag wird.

2. Musik = 1. Musik

Autorin: Wer in seiner Schulzeit einem Überlebenden des Holocaust begegnen konnte, wird das nicht vergessen. Einer dieser Zeugen war Hans Sahl. Er hat Schülerinnen und Schülern erzählt, er hat sich ihren Fragen gestellt und sie beantwortet. Einer Schulklasse, die er besuchte, hat er ein Gedicht gewidmet, in dem es heißt:

Sprecherin:

Unser Dasein ist für Euch bereits Legende

geworden,

unser Leid ein Gerücht von gestern.

Aber in den Liedern der Vertriebenen

und im Rascheln des Windes,

der ein verbranntes Buch aufblättert,

erzählen wir Euch, was geschah,

als der Hahn zum drittenmal krähte.

(Hans Sahl) (2)

Autorin: Wer wird in Zukunft das verbrannte Buch aufblättern? Wer kann Menschen von heute und morgen mit der Vergangenheit berühren? Denn die heutigen Überlebenden der Konzentrationslager sind sehr alt. Zukünftig wird keiner von ihnen mehr da sein.

1996 führte der damalige Bundespräsident Roman Herzog die Feierstunde am 27. Januar im Bundestag ein und sagte:

Sprecher: „Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“ (3)

Autorin: An Informationen mangelt es nicht. Wer wissen will kann wissen. Es gibt viele Medien zum Holocaust: Filme, Interviews mit Überlebenden, Orte des Gedenkens, Bücher und vieles andere mehr. Alles kann helfen, dass wir uns an das Geschehene erinnern, das mit jedem Jahr weiter verblasst.

Doch: Wie erreichen Erinnerungen - zumal Erinnerungen längst Verstorbener - das Herz? Wie können sie berühren? Wie können Kinder und Jugendliche und auch wir Erwachsene uns so an das Grauen des Holocausts erinnern, dass wir nicht erstarren? Dass wir uns interessieren, statt abzuwinken: Lass mich in Ruhe damit. Denn es gibt auch ein Erinnern, das in anhaltende Hoffnungslosigkeit mündet. Dann macht sich das Gefühl in uns breit: „Wir sind gelähmt und machtlos. Wir können auch heute auch nichts bewirken.“ Der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel sagt:

Sprecher: "Ich will auf keinen Fall die Verzweiflung vermehren, wenn ich die Geschichte der Opfer erzähle. … Wir sollten die Geschichte erinnern, um die Verzweiflung zu bekämpfen." (4)

Autorin: Sich so erinnern, dass ich Hoffnung schöpfe und nicht verzweifle. Wie das geht, kann ich aus der Bibel lernen. Der Grundton in der Bibel im Blick auf das Erinnern, ist ein hoffnungsvoller. Der Religionsphilosoph Martin Buber beschreibt ihn so:

Sprecher: "Die jüdische Bibel ist die reichste Erinnerungswahrerin,

die freigiebigste Erinnerungsspenderin der Menschheit;

wenn irgendwer, wird sie uns lehren,

uns wieder zu erinnern." (5)

Autorin: Dazu steht im 5. Buch Mose der Bibel ein geradezu zärtlicher Vers:

Sprecherin: "Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nichts vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt

dein ganzes Leben lang.“ (5. Mose 4,9)

3. Musik: Track 10 Fest- und Gedenksprüche op. 109 „Wo ist solch ein herrlich Volk“ von Johannes Brahms (Komponist), von CD 6 Choral Classics, Chamber Choir of Europe (Interpreten), Leitung: Nicol Matt, 2003 Brillant Classics - Kloster Bronnbach Wertheim, Schlosskirche Bad Dürkheim, Produzent: Reinhard Geller, LC 09421.

Autorin: Sich so erinnern, dass Gutes daraus entsteht. Der frühere rheinische Präses Peter Beier sagte einmal:

Sprecher:

„Gedenkt!

Erinnert nicht nur!

Erinnerung atmet flach.

Gedächtnis atmet tief.

Erinnerung spielt sentimental.

Gedenken arbeitet schwer

und ist ein Werk des Glaubens,

der weiß:

Vergangenheit ist nie vergangen,

Tote sind nicht nur tot,

im Haus wohnt das Gestern,

und die Zukunft braucht ein langes Gedächtnis.“ (6)

Autorin: Gedenken ist mehr als nur nach-denken. Es ist Nachspüren, ein Eindenken nicht nur mit dem Kopf. So sieht es die Bibel. Sie geht in die Tiefe der Zeiten. Hier wird das, was gewesen ist mit der Gegenwart und der Zukunft versprochen. Am Ende des Bibel-Verses vom Hüten und Bewahren der Seele steht:

Sprecherin: „Und du sollst deinen Kindern und Kindeskindern kundtun“. (5. Mose 4,9)

4. Musik = 3. Musik

Autorin: Erinnere deine Kinder - woran? Das lesen die Nachfahren des Volkes Israel in der Bibel: Wie Gott die Zehn Gebote gab, wie der Bund zwischen ihm und seinem Volk geschlossen wurde und vor allem: Wie Gott das Volk Israel aus Ägypten befreit hat. Es ist ein Gemisch aus guten und schlechten Erinnerungen. Aber die Zusammenschau ergibt: Gott ist treu, er hat sich damals an seinen Bund erinnert und er wird es auch weiterhin tun.

Erinnere deine Kinder – wie geht das heute? Die jüdische Tradition kennt ein Gedenken mit allen Sinnen, das in jeder Epoche und an jedem Ort stattfinden kann. Im Pessachfest erinnern sich die Jüdinnen und Juden mit allen Sinnen an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Am Eröffnungsabend stellt das jüngste Kind unter den Feiernden vier wiederkehrende Fragen. Die erste heißt: “Weshalb ist dieser Abend anders als alle anderen?”

Auf die Fragen des Kindes hin erzählen die Erwachsenen die Geschichte vom Auszug aus Ägypten. So wie sie sie selber als Kinder gehört haben. Damit nicht genug - es gibt bestimmte Speisen zu riechen und zu schmecken, die an den Aufbruch damals erinnern: Bitterkräuter erinnern an das harte Leben in Ägypten. Ein Ei steht für die Zerbrechlichkeit des Lebens. Mit den Speisen und Gegenständen auf dem Festtagstisch, können die Kinder der Geschichte nachspüren. Und sie zu ihrer eigenen Frage werden lassen.

Sprecherin: „In jedem Zeitalter ist der Mensch verpflichtet, sich vorzustellen, er sei selbst mit aus Ägypten gezogen.“ (7)

Autorin: Ein Erinnerungstag für alle am 27. Januar – er böte Chancen für ein gemeinsames Üben des Gedenkens. Ein solches Innehalten wegen des Gesterns lässt nach dem Heute und der Zukunft fragen. Wie ist es heute bei uns mit Minderheiten? Wie gehen wir mit ihnen um? Nach ihrem Schweigen hat die alte Dame bei meinem Besuch doch noch weitererzählt. Sie blieb in ihren Erinnerungen nicht nur bei dem besten Brot ihres Lebens. Sondern sie sprach auch von anderen Fluchterfahrungen, den furchtbaren. Beide sind Teil ihres Lebens geblieben. Und beide gehören zusammen. Der Schrecken muss auch erzählt werden. Damit wir Nachfahren klüger werden.

Die Flucht im Januar 1945 und die Befreiung von Auschwitz geschahen zur selben Zeit. Das soll in keiner Weise verglichen werden. Doch es gibt diese Verbindung: Die Schrecken beider Ereignisse sind durch die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus bewirkt worden.

Und sie wurden mit verantwortet von der großen Mehrheit der Deutschen - auch von denen, die fliehen mussten. So ist es wichtig, dass die vielen sich erinnern. In einem gemeinsamen Gedenken. So dass es jede und jeden Einzelnen erreicht. Damit alle Menschen eine gute Zukunft haben, meint Gudrun Mawick von der evangelischen Kirche.

Sprecher: „Vergangenheit ist nie vergangen, Tote sind nicht nur tot, im Haus wohnt das Gestern, und die Zukunft braucht ein langes Gedächtnis.“ (6)

5. Musik = 1. Musik

1 http://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2013_09_27_3_buss_und_bettag.html

2 Aus Hans Sahl: Die Gedichte. Luchterhand Verlag, München 2009, hier zitiert nach www.lyrik-projekt.de.

3 Bundesgesetzblatt 1996 Teil 1, S. 17, hier zitiert nach http://archiv.jura.uni-saarland.de/BGBl/TEIL1/1996/19960017.1.HTML.

4 Elie Wiesel in Reinhold Boschki, Dagmar Mensink (Hg.), Kultur allein ist nicht genug. Das Werk von Elie Wiesel – Herausforderungen für Religion und Gesellschaft, Münster 1998, S.39.

5 Martin Buber, Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden (Köln 1963) , S. 747.

6 Peter Beier, Präses der Ev. Kirche im Rheinland von 1989–1996, in: Peter Beier, Übergänge, Düsseldorf 1999, S. 140.

7 Aus der Pessach-Haggada, zitiert nach Astrid Greve, „Sachor“ (Gedenke). Der Zukunft ein Gedächtnis in http://www.deutscher-koordinierungsrat.de/dkr-media-themenheft-2013-Erinnern-lernen.

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