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Das Geistliche Wort | 12.02.2017 | 08:35 Uhr

Kleinkariert ist out – Gerechtigkeit größer denken

Guten Morgen!

Samim ist 18 Jahre alt. Er stammt aus Afghanistan. Ich kenne ihn schon, seit er drei Jahre alt ist. Das ist 15 Jahre her. Damals lebte er für ein halbes Jahr in unserer Familie in Essen. Er war schwer erkrankt und wurde hier in Deutschland medizinisch behandelt. Jetzt ist er auf abenteuerlichen Wegen wiedergekommen und seine Geschichte bewegt mich sehr. Es ist eine Geschichte, die mich danach fragen lässt: Wie kann ich einem anderen gerecht werden?

Musik I

Samim lebt heute in einer Außenwohngruppe in Essen-Steele. Dort wohnt er zusammen mit Mehdi, Wahidulla, und Sipan. Was alle Jungs miteinander verbindet? Sie sind als unbegleitete Minderjährige aus Afghanistan und dem Irak geflohen und jetzt – seit etwa einem Jahr – hier in Deutschland. Ich habe Samim und die anderen in der Wohngruppe besucht. Ich bin bei meinem Besuch etwas aufgeregt, denn der angefragte Dolmetscher ist nicht gekommen, aber Erzieher Gregor macht mir Mut: „Das schaffen wir, die Jungs können schon ganz gut Deutsch.“ Ganz brav sitzen sie da. Gregor hat die Jungens informiert und gefragt, ob sie bereit sind, über ihre Heimat, ihre Flucht und ihr Leben in Deutschland zu erzählen. Und? Ja klar, sie wollen unbedingt.

Rund 64.000 unbegleitet minderjährige Flüchtlinge sind derzeit in der Obhut deutscher Jugendämter. Alle zusammen würden problemlos die Arena auf Schalke füllen. Ca.13.000 dieser Jugendlichen leben in Nordrhein-Westfalen. Das ist etwa soviel wie die Schalker Nordkurve fassen kann. Aber welche Einzelschicksale stecken dahinter? Eine echte Herausforderung für die Mitarbeiter der Jugendämter für diese Kinder und Jugendlichen, die vertrieben sind, die ihrer Heimat entkommen mussten, ein Zuhause in Gastfamilien und Wohngemeinschaften zu ermöglichen. Wenn ich die Jungs der Wohngruppe so sitzen sehe und in ihre aufgeregten Gesichter schaue, dann frage ich mich: Was wird wohl einmal aus ihnen werden? Warum hat es sie getroffen in einem Land geboren zu sein, aus dem sie nun fliehen mussten? Und können wir in Deutschland ihnen etwas geben, damit sie ihr Leben schaffen? Konkret: Was kann ich tun, damit es in der Welt etwas gerechter zugeht?

Musik II

Hier in der Außenwohngruppe in Essen-Steele, wo ich zu Besuch bin, leben 10 männliche Jugendliche im Alter zwischen 16 und 18 Jahren. Die Wohngruppe ist im Februar des letzten Jahres eröffnet worden und ist in Trägerschaft der Fürstin-Franziska-Christine Stiftung. Diese Fürstin war im 18. Jahrhundert Landesherrin über Stift und Stadt Essen und ließ ein Waisenhaus in Essen- Steele erbauen, das auch heute noch 100 Kindern und Jugendlichen ein zu Hause gibt. Der Fürstin war es wichtig, den Kindern Bildung und Erziehung zukommen zu lassen. Sie formulierte ihren Auftrag so: „Die Kinder, die nicht zu Hause leben können, sollen ein Haus und ein Herz finden, wo der Mut zum Gestalten ihres eigenen Lebens wieder wachsen kann.“

Genau in dieser Tradition steht die Arbeit der Erzieher und Erzieherinnen in der Wohngruppe: Rund um die Uhr werden die Jugendlichen von qualifizierten Pädagogen betreut. Ihr langfristiges Ziel ist es, sie auf ein selbstständiges Leben vorzubereiten. Konkret sieht das so aus: Immer wieder reden, mit Händen und Füßen, inzwischen mit ein paar Worten. Wie Gedanken und vor allem Gefühle richtig ausdrücken? Diese müssen ans Tageslicht geholt werden, damit sie nicht verloren gehen. Das, was unausgesprochen bleibt – so die Erfahrung –, das brodelt. Und: Das kann sich Luft machen im aggressiven Verhalten. Darum die ständige Aufforderung der Erzieher: „Sprich mit mir!“ Und: „Erzähl von dir, von deinem Leben, deinen Ängsten!“ So kann Nähe und Vertrauen entstehen und sich eine Persönlichkeit entwickeln.

Gregor, der Sozialarbeiter und Erzieher hat ein Bild von der Arbeit mit den Jugendlichen: „Es ist so, als ob die Jungs alle in einem Brunnenschacht sind und natürlich da heraus wollen. Sie befinden sich aber an unterschiedlichen Stellen im Brunnen: Manche erhöht auf Steinen, andere auf einem Mauervorsprung, wieder andere auf dem Boden des Brunnens – aber alle in diesem Schacht. Ich brauche, um ihnen helfen zu können, mehrere unterschiedlich lange Taue. Aber klar ist: Alle müssen klettern.“ Gregor ergänzt deutlich, aber liebevoll: „Ich erwarte viel von den Jungs. Ich fordere sie: Kein Bock mehr, gilt nicht.“ Das ist ‘ne Klare Ansage!

Die Jungs erzählen über ihr Zuhause, ihre Flucht. Alle sind sie über die Balkanroute gekommen. Mehdi sagt: „Ich will anfangen, was willst du wissen?“ Die Worte sprudeln aus ihm heraus. Die Familie wurde in Kabul von den Taliban bedroht, alle entschließen sich zur Flucht, in der Türkei wird die Familie von Schleppern getrennt. Mehdi ist alleine, kommt nach Deutschland und weiß ein gutes halbes Jahr nicht, ob seine Familie noch lebt – diese Angst, für immer alleine zu sein, verfolgt ihn.

Wahidulla ist noch nicht sehr lange in Deutschland, er spricht nur, wenn ich frage. Hinter seinen dicken Brillengläsern Augen, die voller Traurigkeit sind. Sein Vater ist in seinem Beisein von den Taliban getötet worden, die Mutter schickt ihr einziges Kind auf den Weg nach Europa. Gebrochene Herzen in einem Dorf in Afghanistan und hier in Steele, bei Wahidulla, der ganz viel an seine Mutter denkt, die er als Sohn nicht versorgen kann, die jetzt alleine klarkommen muss.

Sipan, kommt aus dem Irak. Er ist Jeside. Er gehört also einer Religion an, deren Mit-glieder von dem IS auf brutalste Weise getötet wurden. Sipan ist ein Lebenskünstler. Mit 8 die Schule im Irak geschmissen, dann nach Bagdad. Dort hat er sich Jahre alleine durchs Leben geschlagen, ist Taxi gefahren, ohne je einen Unfall zu bauen – behauptet er. Ein Onkel schickte ihn nach Europa.

Samim, den ich von früher kenne, kommt aus einem Dorf in der Nähe von Kabul. Als Kleinkind hat er schwere Brandverletzungen erlitten, die geheilt wurden. Als Jugendlicher dann die Diagnose von totalem Nierenversagen, als Folge der kindlichen Brandverletzung. Die Familie verkaufte alles, lieh sich Geld und Samim hat in Pakistan eine neue Niere bekommen. Nur – der Vater kann die lebenslang benötigten Medikamente nicht bezahlen. Samim hat keine Wahl: Seine einzige Chance ist Europa, um hier zu arbeiten und zu überleben.

Musik III

Fluchterfahrungen haben die vier Jungs aus der Wohngruppe in Essen-Steele alle. Jede Flucht einmalig erlebt, erlitten, getrieben von der Hoffnung anzukommen in Europa. Und doch ähneln sich die Berichte: Unendliche tagelange Fußwege durch Regen und Matsch, nachts laufen sie, oft in geduckter Haltung, immer die Angst im Nacken von der Polizei erwischt und zurückgeschickt zu werden. In vielen Ländern gewährt die Polizei keinen Schutz, im Gegenteil: Bewaffnete Männer, die ihnen Angst machen, die ihre Schlagstöcke einsetzen, die sich auch an Hab und Gut vergreifen. Geschlafen wird meistens am Tag, in Mulden im Wald, an Uferböschungen, um möglichst unentdeckt zu bleiben. Einig sind sich alle vier Jungs: Es gibt während der Flucht keine Solidarität unter den Flüchtenden, jeder kämpft für sich allein. Nur, wer mit der Familie unterwegs ist, dem wird geholfen.

Mehdi und Samim sahen taumelnde, erschöpfte Menschen, die sich zum Sterben hingelegt haben, in den Bergregionen Mazedoniens. Viele von ihnen sind von den Tieren der Berge angefressen worden. Beiden ist ganz wichtig, dass ich genau das verstanden habe. Sie fragen nach: “Hast du verstanden, schreib es auf.“ Und die vielen Stunden eingepfercht in einem Kofferraum von den Schleppern. – Todesangst: Was ist, wenn wir entdeckt werden, sterbe ich, weil ich keine Luft bekomme. Auch das soll ich unbedingt aufschreiben. Das sind Erlebnisse! Eingebrannt auf der Festplatte ihres jungen Lebens.

Erst in Griechenland fühlen sie sich sicher, da werden sie als Menschen behandelt. „Gute Leute“, sagen sie. Ja, jeder der vier Flüchtlinge hat gekämpft. Und jetzt sind sie hier, bei uns in Essen.

Musik IV

Die vier jugendlichen Flüchtlinge in Essen. Wie kann man ihrem jungen Leben gerecht werden, einem Leben, das schon so viel Schreckliches erlebt hat? Gibt es schon eine ausgleichende Gerechtigkeit hier und jetzt? – Aber warum soll dann ich, sollen wir Deutschen diejenigen sein, die dafür gerade stehen? Wie groß soll denn meine Gerechtigkeit sein? Mich provoziert eine Gerechtigkeitsvorstellung, wie sie Jesus einmal gegenüber seinen Jüngern formuliert hat (Mt 5,20): „Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen!“

Puh, schon wieder mehr Einsatz als offiziell gefordert. Noch mehr Nachsicht, noch mehr Verständnis, als allgemein gefordert? Reicht denn nicht schon das, was offiziell geregelt ist?

Für Jesus ist Gerechtigkeit nicht die Erfüllung einer normativen Pflicht, kein gleichmachender Standard, kein kleinkariertes Denken. Gerechtigkeit ist für ihn maßgeschneidert am Einzelnen, sie orientiert sich an den Bedürfnissen jedes einzelnen. Nach Jesus werden die Grenzen des persönlichen Gerechtigkeitskorsetts gesprengt: Einfach in XXL denken, anderem mehr Raum geben, mehr langen Atem zeigen, das eigene Gerechtigkeitssystem an der Freiheit des Anderen Maß nehmen lassen.

Denn worum geht es Jesus, wenn er eine je größere Gerechtigkeit fordert? Es geht ihm um das Himmelreich. Ich bin überzeugt, davon lässt sich hier und jetzt schon etwas erfahren, wenn ich Gerechtigkeit größer denke und danach handle:

Ich schaue in die Gesichter der Flüchtlinge und grüße sie – ich komme mit ihnen ins Gespräch – ich ermutige sie bei Schwierigkeiten – ich widerspreche dem Sumpf der Vorurteile und verteidige standfest das Recht auf Menschlichkeit. Und genau dann sind sie da, die geschenkten Momente des Himmels, spürbar in einem Gegenblick, einer Geste, einem Wort. Ich erahne: Wo Fremdsein aufgebrochen wird durch mein Zugehen auf den Anderen, wo Gerechtigkeit nicht nachgerechnet, sondern größer gedacht wird und geschieht, da ist der Himmel auf Erden, da gibt es Himmelsmomente.

Musik V

Wenn es um eine größere Gerechtigkeit geht, die den Himmel auf Erden bewirken kann, dann sind mir in der Begegnung mit den Jungs drei Plädoyers als geschenkte Himmelsmomente in Erinnerung geblieben:

•Da sagt Sipan, mit aussagekräftiger Gestik, fasst sich an Kopf und Herz: „Ich brauch beides Herz und Kopf. Habe ich gelernt hier. Habe ich nur Herz und Gefühl, dann könnte ich was machen, was ich gar nicht will. Hab ich Stress mit Bruder hier, könnte ich ihn schlagen. Wenn ich aber mit Kopf denke, weiß ich, besser sagen, was mich wütend macht.“ Himmel – als Versuch, friedlich zu leben.

•„Alle Menschen sind in Deutschland gleich“, behauptet Samim. „Ne“, sagt Mehdi, „gibt welche mit viel und wenig Geld.“ Samim ergänzt: „Bruder, ich mein es anders: Keiner wird, nur weil er krank ist und Narben im Gesicht hat, ausgelacht.“ Himmel – als erfüllte Sehnsucht, angenommen zu sein.

•Wahidulla, sagt etwas auf Dari, seiner Muttersprache. Die anderen übersetzen: „Im Herzen sind wir alle gleich. Ein richtiger Moslem hilft immer. Er teilt sein Brot mit jedem, der Herz hat, egal welche Religion. Gott schreibt in sein Buch alles: Wenn du Bruder hilfst, darfst du stolz sein, Gott sieht es. Bruder, Leben ist nichts für Bauch vollmachen, sondern zu helfen.“ Himmel – als stetes Bemühen die Not des Nächsten zu sehen!

„Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen!“ denke ich. Da ist er, der Himmel, den Jesus meint, in den Momenten, Gutsein zu leben und zu empfangen.

Musik VI

Jetzt haben wir fast 3 Stunden zusammengesessen, erzählt mit dem ganzen Körper. Puh! – So langsam merke ich, die Luft ist raus bei den Jungs, aber ich hab noch eine Frage: „Was wollt ihr hier mal werden?“ Aus leuchtenden Gesichtern höre ich das Wort: „Schule, Schule fertig machen.“ Sie haben schon alle einen Deutschlevel erreicht, Hauptschulabschluss in diesem Jahr, Realschulabschluss im nächsten.

Dann wollen sie Friseur, Automechaniker, Lackierer und Wahidulla will Doktor werden.

Die Jungs stehen auf, wie es so ist bei Jungs: Die Stühle knatschen, die Stimmen überschlagen sich, die Tür wird aufgerissen, Gregor der Erzieher ruft ihnen nach: „Sipan, die Spülmaschine ausräumen! Und Mehdi, der Einkaufszettel liegt auf dem Küchentisch.“ Ich höre nur: „Ne Bruder, ich war schon gestern dran.“ Echt angekommen im wirklichen Leben!

Ich steh schon auf, da kommt Sipan nochmal reingepoltert: „Kann ich noch was sagen?“ Ich nicke: „Sag den Leuten, die das hören: Wir wollen das hier schaffen, wir wollen dazugehören, wir wollen hier arbeiten: Die sollen uns alle eine Chance geben.“ „Wenn unsere Gerechtigkeit nicht größer ist …“, denke ich.

Ihre Barbara Mikus Boddenberg aus Essen

Musik VII

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